Category: Im Spiegel des Zorns

Kapitel 4 - Entscheidungen
Layna lehnte an einer der Säulen, die den Weg zwischen Tempel und Hauptversammlungshaus von Elitawana säumten. Sie saß gerne hier und blickte über die Dächer der Tempelstadt hinweg, um ihre Gedanken schweifen zu lassen.
Makuú, einer der drei Akolyten des Roten Priesters, näherte sich ihr langsam und beobachtete eine Weile aus sicherer Entfernung das Gesicht der Frau, die so viel älter und weiser war, als er es jemals werden würde.
„Was gibt es, Makuú?“, fragte Layna, ohne auch nur den Kopf in seine Richtung zu wenden.
„Verzeiht, Herrin, ich wollte euch nicht anstarren.“
Layna seufzte leise und schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie wirkte müde, unter ihren Augen lagen Schatten und der Kummer, der sich nur schwer verbergen ließ, hatte feine Linien in ihrem Gesicht hinterlassen.
„Komm.“
Sie deutete auf den Platz neben sich.
„Du hast Fragen, also frag.“
„Woher wisst ihr..?“
Layna unterbrach ihn nur mit einem kurzen Blick in seine Augen.
„Verzeiht..“, murmelte der hochgewachsene junge Mann, unter dessen Turban ein paar einzelne, dunkle Locken hervorblitzten und ein Gesicht rahmten, dessen Haut wie Karamell war mit Augen, so grün wie die Wiesen um den Tempel herum.
„Du machst dir Sorgen?“
Layna hatte den Blick wieder von ihm abgewendet.
„Ja, Herrin. Und nicht nur ich.“
Er zögerte etwas und schien über seine Wortwahl nachzudenken, was Layna wiederum zum
Schmunzeln brachte, da gerade Makuú jemand war, der immer sehr direkt aussprach, was er dachte.
„Der Rote Priester sagt, dass er Nachricht bekommen hat. Die Situation zwischen Fallacon und dem
Sturmwald ist angespannter denn je. Er sagt auch, dass es eine Prophezeiung gibt, dass ein Volk der Drachen dieses Zeitalter nicht überleben wird. Ist das wahr, Herrin?“ Layna seufzte.
Mehr als zweihundert Jahre war es her, dass sie diese Vorhersehung hatte und seitdem war so vieles geschehen. Einen kurzen Augenblick war sie besorgt, denn außer ihr, den Drachen und den Hohepriestern sollte niemand etwas davon wissen, doch dann lächelte sie etwas wehmütig. Der Seher und sie waren die einzigen, die Elitawana verlassen und besuchen konnten, wie es ihnen gefiel. Der Schutz der Drachen, der um diese Stadt lag, machte es jedem anderen Sterblichen unmöglich, alleine hierher zu gelangen, es sei denn, es war der Wille der Drachen selbst, der sie herschickte. Sie sah Makuú in seine tiefgrünen Augen und nickte langsam.
„Es ist wahr. Eine solche Prophezeiung gibt es, mein Junge.“
Makuú rutschte ungeduldig neben ihr auf dem Grasstreifen zwischen den Säulen hin und her.
„Aber was bedeutet das? Welches Volk wird es sein und – warum tun die Drachen nichts dagegen?
Warum sagen wir es den Menschen nicht, damit sie wissen, dass dieser Krieg zu einem schrecklichen Ende führen wird?“
Layna seufzte erneut, versuchte aber, sich ein Lächeln abzuringen.
„So einfach ist es nicht, Makuú. Sonst wäre meine Aufgabe nur die, den Menschen zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass das nicht funktioniert und kein Wort, das ich sprechen kann, würde diesen furchtbaren Krieg zu einem Ende bringen – auch das konnte ich sehen.“
Die grünen Augen blitzten auf.
„Aber die Drachen können doch nicht wollen, dass eins ihrer Völker ausgelöscht wird!“ Layna nickte.
„Das wollen sie auch nicht, Makuú. Aber es ist schwer, einen Weg zu finden, gegen das Schicksal selbst zu kämpfen.“
„Haben sie es denn versucht?“
Die Stimme der Zeit lehnte den Kopf an die Säule und schloss die Augen.
Jahrzehntelang hatte sie zu den Drachen gesprochen, um einen Weg zu finden, um das, was sie gesehen hatte, zu verhindern.
Am Ende hatten die Drachen beschlossen, einen Vermittler zu erschaffen, der so rot war, wie grün und der den Krieg beenden sollte. Ein Jäger mit rotem Feuer, ein Krieger, verbunden mit der Natur. Er sollte es sein, der den Frieden bringt.
Doch der Weg dorthin war schwer. Siebzehn Jahre lang hatte der Rote Drache sich seiner Gefährtin nicht mehr gezeigt, damit sie in der Lage war, ihr Herz einem anderen Mann zu öffnen und jetzt, als alles so arrangiert war, dass Lauriel, die Gefährtin des Roten Drachen und Heerführerin des Roten Heeres in Al’Bajaar auf Alakans traf, den König der Jagd und Anführer der Grünen, war doch nichts so, wie es hätte sein sollen.
Die Drachen hatten nicht bedacht, was Gefühle ausrichten. Lauriel war zu zerrissen zwischen dem Drachen, den sie liebte und dem Mann, der so mühelos die, seit Jahren währende Einsamkeit vertrieb und Alkanas war zu verblendet von seinen Gefühlen der Unbekannten gegenüber, um scharfsinnig genug zu sein, die richtigen Fragen zu stellen. Vermutlich hatten die Drachen nicht einmal damit gerechnet, dass Lauriel und Alkanas sich nicht erkannten.
Layna sah den dunklen Sturm, der sich über dem Wüstenhimmel zusammenzog, der seine Schatten auf das ganze restliche Zeitalter warf und weit darüber hinaus und sie fühlte, wie es ihr das Herz zerriss.
„Weißt du, Makuú – die Wege der Drachen sind unergründlich. Ich bin sicher, sie haben alles in ihrer
Macht stehende getan, um zu verhindern, dass so etwas Schreckliches passiert. Alles andere wird das Schicksal zeigen. Hab Vertrauen.“
Mit diesen Worten stand sie auf, weil sie den Blick aus den leuchtend grünen Augen, die noch so wenig von der Welt gesehen hatten und frei waren von dem Schmerz, den nur das Schicksal selbst hervorbringen konnte, nicht mehr ertrug.
„Ich habe noch zu tun.“
Dann ging sie fort, ohne sich umzusehen.
Die Drachen hatten eine Entscheidung getroffen und mit den Konsequenzen dieser Entscheidung musste die Welt nun leben.

Der Abend kündigte sich mit atemberaubenden Farben über dem Wüstenhimmel an. Lauriel und Alkanas lagen immer noch ineinander verschlungen an dem Stein, an dem er sie gefunden hatte.
Er war eingeschlafen. Lauriel beobachtete ihn und flüsterte leise und sanft einen tieferen Schlaf in seine Seele, um in Ruhe nachdenken zu können.
Wieder und wieder glaubte sie, die Stimme von Detarius in ihrem Gewissen zu hören, der ihr unmissverständlich klar machte, dass es nur einen richtigen Weg geben konnte.
Es wäre ihr ein leichtes gewesen, seine Erinnerungen an sie verschwinden zu lassen und zu gehen. Er wäre aufgewacht und seiner Wege gezogen und sie hätte mit dem Gedanken weitergelebt, dass er niemals mehr sein konnte, als ihr Feind.
Doch je länger sie so da lag und ihn betrachtete, sich seine Züge einprägte, als wäre es das letzte Mal, dass sie ihn sah, desto mehr wehrte sich etwas in ihr dagegen, diesen vernünftigen Weg zu gehen. Sie lauschte tief in sich hinein, dort, wo ihr eigenes Seelenlied erklang, in dem nun der Hauch einer fremden Melodie eingewoben war – seiner Melodie.
Gleich, was geschah, sie würde ihn nicht vergessen können. Er würde immer ein Teil von ihr sein, egal wo sie war und was sie tat und der Gedanke, dass er sich dann nicht mehr an sie erinnern konnte, wurde so unerträglich, dass es ihr die Kehle zuschnürte.
„Nein..“, flüsterte sie.
Sanft hob sie eine Hand und zog mit den Fingerspitzen die Linien seines Gesichtes nach.
„Es tut mir so leid. Ich weiß, es wäre besser für dich, aber der Gedanke allein bricht mir das Herz.“
Sie schloss die Augen und versuchte, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen.
Was, wenn sie doch einen Weg fand, ihm zu erklären, wer sie war?
Ein bitterer Zug huschte über ihre Lippen. Es war zu spät für die Wahrheit – viel zu spät. Gleich, was sie sagte, er würde sich von ihr hintergangen fühlen.
Als sie die Augen wieder öffnete, lag ein tiefer, trauriger Schimmer darin.
„Ich kann diese Entscheidung nicht allein treffen“, wisperte sie, schmiegte sich noch etwas tiefer in seinen Arm und löste den Zauber, der ihn tief im Schlaf hielt.

Er blinzelte und tauchte noch im gleichen Augenblick in die Dunkelheit ihrer Augen.
„Geht es dir besser?“, war seine erste, hastige Frage.
„Ja.. sorge dich nicht.“ Ihre Stimme war weich und warm und das Lächeln auf ihren Lippen erfüllt von einer sonderbaren Ruhe.
„Aber .. du siehst traurig aus.“ Lauriel atmete tief ein und aus.
„Ich bin traurig, Alkanas.“
Nun schloss er kurz die Augen und seine Lippen wurden schmal.
„Ich habe dich verletzt, es tut mir leid. Glaub mir, wann immer ich die Verbindung einer Luishja sah, war es schön und voller..“
Lauriel legte rasch einen Finger auf seine Lippen. „Nein.. es ist alles gut. Das ist es nicht.“ Er runzelte die Stirn und sah sie wieder an.
„Was.. ist dann?“
Lauriel tauchte in seine tiefblauen Augen und lächelte traurig. Dann versuchte sie sich aus seiner Umarmung zu lösen.
„Nicht..“
Es war eine Bitte – nicht mehr und nicht weniger.
Sie verharrte und sah ihn an.
In ihr brannte der Wunsch auf, ihm etwas zu geben, ihm Erinnerungen zu schenken, die von Freude und Glück erfüllt waren, denn ihr war klar geworden, dass es längst unvermeidlich geworden war, dass auf das, was sie hier teilten, irgendwann ein Schmerz folgen würde, den sie beide vielleicht nicht ertragen konnten.

„Ich..“, setzte sie an und brach dann wieder ab, nach Worten suchend, die wenigstens halbwegs ausdrücken konnten, was sie ihm sagen wollte.
Er betrachtete sie dabei schweigend, ahnend, dass in ihr ein Kampf tobte, den er aus irgendeinem Grund nicht verstehen konnte.
Schließlich neigte er sich vor und küsste sanft ihre Stirn.
Dann ließ er sie los.
Lauriel erhob sich langsam und ging ein paar Schritte, spürend, dass er ihr folgte.
Also versuchte sie den Sturm aus Gedanken, Gefühlen und Ahnungen, der in ihr tobte, zu beruhigen und atmete tief ein und aus. Dann blieb sie stehen, wandte sich um und nahm seine Hände in ihre, während sie ihm in die Augen sah.
„Alkanas..“, begann sie zögernd, jedoch plötzlich von einer eigentümlichen Ruhe erfüllt. „Es kann nur zwei Wege geben, die wir von diesem Augenblick an gehen..“ Er sah sie noch immer an und schwieg, wartend auf die folgenden Worte.
„Der eine Weg ist der, dass ich auf mein Pferd steige und fortreite. Wir sehen uns niemals wieder, werden nie wieder teilen, was wir hier bereits teilten und du darfst nicht nach mir suchen.“ Ein dunkler Schatten legte sich auf seinen Blick und sie sah an seinen Wangenmuskeln, wie seine Kiefer aufeinander gepresst waren. Dennoch wartete er, dass sie weitersprach.
„Der andere Weg ist der, dass du..“, sie zögerte etwas und schloss die Augen, ehe sie weitersprach, da die Worte ihr nur schwer über die Lippen kamen.
„Der andere Weg ist der, dass du mir vertraust. Stell keine Fragen.. und komm mir nicht näher, als du es in dieser Nacht warst. Dann werde ich bleiben – zumindest eine Weile.“ Sie öffnete die Augen und sah seinen Blick, der ihr wie ein Messer ins Herz schnitt.
Leise flüsternd fügte sie hinzu:
„Und auch, wenn du es jetzt noch nicht verstehst – der zweite Weg, wird der schmerzvollere sein.“ Alkanas sah sie an, huschte mit seinem Blick über ihre Züge und wieder zurück zu ihren Augen. Was machte ihr solche Angst und was verbarg sie vor ihm? Was konnte so schlimm sein, dass sie nicht in der Lage war, es ihm offen zu sagen?
Einen winzigen Moment kämpfte sich so etwas wie Misstrauen in ihm hoch, doch wurde dieser zaghafte Versuch seines Verstandes im Keim erstickt, als er in ihren Augen das Gefühl hatte, die Weisheit einer ganzen Welt zu sehen und tief atmete er ein und aus.
Dann zog er sie näher zu sich und schloss sie in seine Arme.
„Du kennst die Antwort bereits, Jangwa Maua.. meine Wüstenblume. Ich wähle den zweiten Weg, egal, was er mit sich bringt.“
Auch sie schloss die Augen und atmete seine Nähe ein.
‚Sie braucht nur Zeit‘, dachte er still für sich und lächelte, während sich seine Hände in ihr Haar gruben.
Schließlich löste er sich ein Stück weit von ihr, ohne sie wirklich loszulassen und sah sie an. „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, Shadia, aber ich verhungere.“ Seine Augen blitzten auf und ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen.
Lauriel lächelte und nickte.
„Du hast Recht. Lass uns jagen gehen.“
Und noch während sie den Satz aussprach, schluckte sie, schob das seltsame Gefühl, das in ihr aufkam jedoch von sich fort und nahm seine Hand.
Bei den Pferden angekommen zog sie ein langes, gebogenes Messer aus den Satteltaschen ihrer Stute. Alkanas hingegen griff zu Pfeil und Bogen.
„Dann lass uns schauen, was die Wüste für ein Abendessen für uns bereithält.“ Er lachte und gemeinsam zogen sie los.