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Kapitel 1 – die Ankunft

„Bei nächster Gelegenheit rechts abbiegen.“
Die blecherne Frauenstimme des Navis surrte durch den Wagen und wurde dabei von dem Gedudel aus dem Radio untermalt.


Ich folgte der dunklen Straße seit einer gefühlten Ewigkeit in langgezogenen Windungen durch Wälder und um Berge herum. Wo die Abendsonne vor einigen Stunden noch die vom Herbst bunt gefärbten Bäume, Felsen und Wiesen in warme Farben gehüllt hatte, sah ich längst nur noch Schatten vorbeihuschen, die sich rechts und links von der Fahrbahn aufrichteten und mit langen Armen in den dunklen Himmel zu ragen schienen. Von Zeit zu Zeit wichen schmalere Straßen von der Hauptstraße ab und verschwanden in vollkommener Dunkelheit. Ich war froh und auch erleichtert, als ich endlich die blassen Lichter einer kleinen Stadt erkannte auf die ich zufuhr. Endlich sah ich wieder Häuser, und ließ sie auch gleich wieder hinter mir, denn mein Ziel schien ein Stück weit hinter dem Ort zu liegen, der den klangvollen Namen „Zarnesti“ trug. Ich folgte der Route auf dem kleinen, leuchtenden Monitor und fuhr schließlich auf einen Parkplatz vor einem hell angestrahlten, schmutzig-gelben Betonklotz mit der Aufschrift „Spitalul ‚Dr. Caius Tiberiu Spârchez‘“.

„Na großartig“, seufzte ich leise vor mich hin, als ich sah, dass nur noch eine Parklücke frei war und mir diese selbst für meinen kleinen Golf zu winzig vorkam.Als ich den Motor schließlich ausschaltete und die Handbremse anzog, sah ich zu dem Gebäude und fragte mich, wie schon so viele Male in den vergangenen Stunden, was ich mir eigentlich dabei gedacht hatte, ein Drittel meines praktischen Jahres irgendwo in einer kleinen Stadt in Rumänien zu machen.
Ich kannte die Antwort.
Eigentlich war alles anders geplant. Ich wollte das ganze praktische Jahr, das man am Ende seines Medizin-Studiums absolvieren musste, in der Universitäts-Klinik verbringen, die ich mein ganzes Studium hindurch schon kannte. Ich hatte diesen Plan bereits im ersten Semester gefasst, da ich überzeugt war, auf diese Weise bessere Chancen zu haben, dort im Anschluss an mein Studium auch eine Assistenzarztstelle zu ergattern.
Dann hatte Steven mich betrogen und wir hatten uns getrennt.
Er hatte geschworen, dass es niemals wieder passieren würde. Nächtelang hatten wir gestritten, Wein getrunken und viel zu viele Zigaretten geraucht. Ich schüttelte mich bei der Erinnerung.
Schließlich war die Entscheidung getroffen. Er war bereits im ersten Jahr der Assistenzarzt-Ausbildung. Er wollte Chirurg werden und hatte angefangen zu arbeiten, als ich gerade erst aufstand und er war erst nach Hause gekommen, wenn ich schon lange wieder im Bett lag, um zu schlafen. Er war oft erschöpft und frustriert gewesen, das hatte ich gespürt, aber ich hatte nicht erwartet, dass es so enden würde.

Ich zog zu einer Freundin und hielt es für eine gute Idee, mir Wein und Zigaretten abzugewöhnen, während ich mich auf mein drittes Staatsexamen vorbereitete und war, wie ich vermute, der unausstehlichste Mensch auf der Welt. Und dann las ich von Zarnesti, sehr weit weg und somit, wie mir schien, absolut perfekt.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Auf den Bildern hatte das alles etwas anders ausgesehen, kein hässlicher, gelber Beton, kein Schmutz und kein voller Parkplatz unter Neon-Scheinwerfern.
Ich runzelte die Stirn und griff nach der Mappe auf dem Beifahrersitz.
Unter den zahllosen Zetteln und Dokumenten zog ich einen Lageplan hervor und verglich die Linien darauf mit dem, was vor mir lag.
Dann entdeckte ich, wonach ich suchte. Ganz links war, halb von Sträuchern verdeckt, ein Schild mit der Aufschrift: Judas-Thaddäus-Stiftung, Leitung Prof. Dr. Cretulescu. Darunter zeigte ein Pfeil auf eine Straße, die mir noch dunkler erschien, als die, die mich hierhergeführt hatten.

Ich seufzte und startete den Motor. Langsam folgte ich der schmalen, bald wieder von hohen Tannen gesäumten Straße in die Dunkelheit. Nach einigen Minuten langsamer Fahrt erahnte ich jedoch Licht vor mir und tatsächlich traten die Bäume zurück. Ein Schmiedeeiserner Zaun, hoch wie zwei ausgewachsene Männer und mit kunstvollen Schnörkeln verziert wand sich von der Straße rechts und links in die Nacht und dahinter ging der Weg gerade auf ein Gebäude zu, das so gar nicht in diese Umgebung passen wollte. Angestrahlt von geschickt in Ziersteinen versteckten Lampen hatte es etwas von einem kleinen Schloss, mit kleinen Türmen und Erkerzimmern in mitten eines weitläufigen Parks, soweit es sich im Dunkeln zumindest erahnen ließ. Auch hier endete der Weg auf einem Parkplatz, kleiner als der andere und mit nur wenigen Autos auf in ausladenden Parkbuchten. Die meisten Fenster waren dunkel, nur einige wenige waren mit schwachem Licht erleuchtet. Das entsprach schon eher dem Bild, das man mir geschickt hatte.
Hier waren also die psychisch kranken Sprösslinge wohlhabender Familien untergebracht und hofften, eines Tages wieder nach Hause zurückkehren zu können.
Ich schüttelte den Kopf. Seit dem ersten Tag an der Universität hatte ich gewusst, dass ich Chirurgin werden wollte. Ich hatte darauf hingearbeitet, hatte mir nichts anders vorstellen können und jetzt, nach allem, was passiert war, stand ich mitten in einem fremden Land vor einer Klinik für psychisch Kranke und wusste, dass ich mich weiter von meinen eigentlichen Plänen wohl kaum hätte entfernen können.

Ich kaute eine Weile auf meiner Unterlippe herum, dann sah ich auf mein Handy. Es war 6:45 und ich merkte jede einzelne Stunde der Nacht, die ich auf Autobahnen und Landstraßen verbracht hatte.
„Rufe Jenn an“.
Mein Handy glotzte mich eine Weile reaktionslos an, ehe plötzlich der Bildschirm aufleuchtete und ein Foto von Jenn zeigte, deren leuchtend rote Haare das Bild wie einen Rahmen ausfüllten.
„Hmm..“..
In Nürnberg war es jetzt vermutlich erst 5:45 und das verschlafene Brummen am Ende der Leitung bestätigte meine Vermutung.
„Du wolltest, dass ich mich melde, wenn ich da bin.“
Ich versuchte, nicht genervt oder gereizt zu klingen, was mir schwer fiel nach den knapp 10h Fahrt von Wien aus und den 14h am Tag davor.
„Lia!!“, brüllte mich die Stimme aus dem Handy plötzlich an.
„Eh.. ja. Jetzt bin ich taub.“
Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein Lachen, gefolgt von einem Poltern und einem Fluchen.
„Was machst du denn da?“
Ich starrte auf Jenns sommersprossiges Gesicht, das mir von dem Handy-Bild aus entgegen strahlte.
„Ich .. autsch.. Mist… ahh… verdammte Flasche… warte….“
Ich schaltete das Handy auf Lautsprecher und legte es auf den Beifahrersitzt, so dass ich Geldbeutel, Kopfschmerztabletten und Wasserflasche in meine Tasche packen konnte.
Ich sah mich um und registrierte stirnrunzelnd das Durcheinander von leeren Energy-Drink-Dosen, Schokoladenpapier, Lippenbalsam, CD-Hüllen und einer Brötchentüte. Alles, was ich noch brauchte, wanderte ebenfalls in die Tasche, dann nahm ich das Handy wieder in die Hand.
„Soll ich später anrufen?“
„Nein“, hallte es mir aus Nürnberg entgegen.
„Ok..“
„Ich hab mich nur gestoßen, verdammt.. jetzt erzähl. Wie ist es?“
Ich sah mich um und ließ meinen Blick über das eigentümliche Gebäude schweifen, dann seufzte ich.
„Ich weiß nicht genau. Es sieht.. seltsam aus. Es passt so gar nicht zu dieser Stadt. Dort ist alles irgendwie.. einfach.. und klein.. außer der Natur, die ist.. gigantisch.“
„Ach, das wird sicher großartig, warte mal ab.“
„Jenn, ich weiß nicht. Vielleicht war es doch keine so gute Idee. Ich überlege schon seit der Grenze, ob ich nicht doch lieber an eine große Klinik in Deutschland gehen sollte. Es muss ja nicht DIE Klinik sein“
„Schluss mit dem Unsinn.“
Offensichtlich war Jenn jetzt wach, denn ihre Stimme war klar und überzeugend.
„Wie viele Nächte hast du hier gesessen und geheult, weil alles so schrecklich ist? Du wolltest so weit weg von Steve und der Chirurgie und all deinen Plänen, wie es nur geht – und jetzt bist du genau da, wo du hinwolltest“
„Du hast ja leicht reden.“ Ich murmelte es eher, aber Jenn hatte mich genau verstanden.
„Komm schon. Du wolltest doch mal was anderes sehen und auf andere Gedanken kommen. Geh rein, finde heraus, wie die Leute da ticken und sag mir heute Abend Bescheid. Und mach Fotos!“
„Ja, mache ich“, erwiderte ich und atmete durch. „Dann bis – heute Abend oder so.“
„Pass auf dich auf, Lia.“

Jenns Gesicht verschwand vom Bildschirm und das Handy flog achtlos in meine Tasche. Dann gab ich mir einen Ruck und stieg aus dem Wagen.
Ich schwankte – offensichtlich war mein Kreislauf der Ansicht, noch ein wenig im Auto bleiben zu wollen. Ich hielt mich an der Tür fest und wartete, bis sich die dunklen Flecken, die vor meinen Augen schwirrten, wieder beruhigten.
Der Sonnenaufgang schien noch eine Weile auf sich warten zu lassen und nur das seltsam verschachtelte, bleichweiße Gebäude leuchtete mir matt entgegen.
Ich seufzte und betrachtete mich in der Autoscheibe.
Dunkle Augen aus noch dunkleren Schatten sahen mir entgegen und die blonden, schulterlangen Haare, die eher einem Gestrüpp glichen als einer Frisur, machten das Bild nicht besser. Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und zwang sie in einen einfachen Pferdeschwanz.
Es machte den Eindruck nicht wirklich besser, aber ohne Schlaf, eine heiße Dusche und eine oder zwei Kannen Kaffee würde sich an diesem Zustand auch nichts mehr verbessern lassen.
Ich seufzte ein weiteres mal und zuckte die Schultern. Es waren nur vier Monate, die ich hier verbringen würde und dann, wenn der Frühling kam, konnte ich wieder nach Hause. Jenn hatte recht. Ich hatte mir gewünscht, ganz weit weg von meinen ursprünglichen Plänen und dem Mann zu sein, der mir das Herz gebrochen hatte und ich war mir vollkommen sicher, dass ‚ganz weit weg‘ auf jeden Fall hier sein musste.
Rasch drehte ich mich um und prallte unvermittelt gegen einen Mann, der schräg hinter mir an dem Auto stand, das neben mir parkte.
Ich hatte weder seine Schritte gehört noch eine Bewegung bemerkt.

„Hey, was..“, ich biss mir auf die Lippe und machte mir klar, dass eine Schimpftirade an meinem neuen Arbeitsplatz nicht der beste erste Eindruck war
„Entschuldigung“, murmelte ich also leise und sah zu meinem Gegenüber hoch.
Der Mann war groß, muskulös und hatte ein scharf geschnittenes, hellhäutiges Gesicht. Er trug einen Anzug, der maßgeschneidert sein musste und sein schwarzes Haar war zu einem vollkommen akkuraten Zopf in seinem Nacken gebunden. Seine Augen hingegen waren blass blau und musterten erst mich, dann mein Auto und schließlich wieder mich. Unwillkürlich fröstelte ich.
„Sie können hier nicht parken – diese Parkplätze sind nur für Klinik-Personal.“ Seine Stimme klang tief und fest, so dass ich automatisch einen halben Schritt zurück weichen wollte und mich mit dem Rücken an meiner Autotür wiederfand.
Er schüttelte den Kopf, schien zu entscheiden, dass ihm seine Zeit zu kostbar für dieses Problem war und wandte sich wortlos ab. Dann öffnete er die Fahrertür seiner dunklen Limousine und stieg ein, nur um einen Augenblick später fast lautlos vom Parkplatz zu fahren.
„Vollidiot“, motzte ich leise vor mich hin.
„Übrigens bin ich Klinik-Personal .. noch dazu schlecht bezahlt!“
Mir war vollkommen klar, dass er mich nicht hören konnte, aber ich war wütend und müde. Diese ganze Situation, das Klinikum, die Stadt und überhaupt alles erschienen mir fremd und falsch. Ich wollte wieder dahin, wo ich mich auskannte, wo ich wusste, was ich wie und wo machen musste und wo ich die besten Kaffee-Automaten kannte.
Ein letzter Seufzer entglitt mir, dann stieß ich mich von meinem Auto weg, warf mir die alte, abgewetzte Ledertasche über die Schulter und ging auf das altertümlich anmutende Gebäude zu.
„Ich hasse dich jetzt schon, nur dass du es weißt.“

Das Gebäude nahm meine Beleidigung mit stoischer Ruhe zur Kenntnis – dann stand ich auch schon vor der riesigen Eingangstür, eine alte, hölzerne Flügeltür mit schweren Griffen. Sie war verschlossen. Ich suchte und fand einen Klingelknopf, zögerte etwas, schluckte kurz und drückte dann darauf. Nichts geschah.
Ich wartete eine Weile, dann klingelte ich noch einmal.
Diesmal hörte ich ein Schaben und Rascheln. Kurz darauf öffnete sich eine kleinere Tür, die in die große Tür eingelassen war und ein kleiner, hagerer Mann in weißem Kasak und weißer Hose sah mich aus wässrig-grünen Augen fragend an.
„Ja?“
Er machte keine Anstalten aus dem Weg zu gehen.
„Ehm .. mein Name ist Caecilia Norish. Ich bin angemeldet für das PJ-Tertial hier und..“
Er unterbrach mich mit einer hastigen Geste und bedeutete mir, leiser zu sprechen.
Ich starrte ihn an und fuhr, beinahe flüsternd, fort:
„Ich bin gerade erst angekommen. Wo muss ich mich melden?“
Ich bekam wieder keine Antwort.
Der Mann packte mich am Arm und zog mich mit sich, bedeutete mir gleichzeitig mit der freien Hand, still zu sein.
Hinter der großen Flügeltür lag eine Eingangshalle mit dickem Teppich und großen, alten Gemälden, die verschiedene Menschen und Landschaften zeigten. Mir blieb nicht die Zeit, sie in Ruhe zu betrachten, denn der Mann zog mich durch eine weitere Tür zu seiner rechten und dahinter einen schmalen Gang entlang.
Mehrere weitere Türen gingen rechts und links von dem Gang ab und durch eine von ihnen zog er mich, ehe er mich endlich los lies. Wir standen in einem kleinen Büro mit einem überdimensionierten Schreibtisch, Aktenschränken, Bücherregalen und jeder Menge Papierstapel.
„‘Tschuldigung, aber es is noch früh und wenn wir die Patienten jetzt schon wecken, wird der Tag anstrengend.“
Ich runzelte die Stirn. Mittlerweile war es vermutlich sieben Uhr. In jedem Krankenhaus, das ich kannte, war um diese Zeit bereits voller Betrieb. Ich zuckte die Schultern und kramte die Mappe aus meiner Tasche.
„Ich bin Ted, arbeite hier schon ne Weile. Hast du die Formulare dabei?“
Ich nickte und drückte ihm Personalbogen, Schweigepflichtserklärung und alles andere, was ich hatte ausfüllen und unterschreiben müssen in die Hand.
Er sah die Unterlagen einmal durch und nickte dann.
„Ich zeige dir gleich dein Zimmer, da kannst du dein Zeug abstellen und dann solltest du erstmal rüber zum Spital fahren und dich nützlich machen. Später zeigen wir dir hier alles.“
Mein Stirnrunzeln war nicht zu übersehen.
„Aber ich..“
„Ich weiß, du hast dich für die Psychiatrie angemeldet, aber wir haben eine Kooperation mit dem Spital. Das bedeutet, dass du morgens dort Blut abnimmst, Zugänge legst und die Verbände erneuerst. Der Professor leitet nicht nur diese Klinik hier, sondern auch die chirurgische Abteilung dort. Du wirst hier ne Menge sehen, Kleine, aber dafür wird erwartet, dass du drüben aushilfst und zwar an jedem Morgen und an drei Nächten in der Woche.“
Ich starrte ihn an, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen. Das konnte nicht sein Ernst sein. Ich war hergekommen, um der Chirurgie den Rücken zu kehren und zwar mit dem Fachgebiet, das sich am weitesten davon entfernte und jetzt sollte ich auf einer chirurgischen Station aushelfen? Und was war das für ein Professor, der eine psychiatrische UND eine chirurgische Klinik leitete? Ging das überhaupt?
„Ich habe aber..“
Er unterbrach mich mit einer knappen Geste.
„Nimm es einfach hin. Glaub mir, is besser so. Du willst nicht mit dem Professor diskutieren, das ist nicht gut.“
Er sah auf die Uhr und zog die Brauen zusammen.
„Is schon nach sieben – dein Zimmer muss warten. Lass dein Zeug hier und dann rüber mit dir. Wir sehen uns hier in“ er sah wieder auf die Uhr „naja, mal sehen wie schnell du bist – schätze so in drei Stunden. Guten Start und bis nachher. Ich bring dich raus.“
Mit diesen Worten schob er mich durch die Tür und den Gang zurück zum Haupteingang. Jeder versuch, etwas sagen oder fragen zu wollen, wurde von ihm mit raschen Gesten unterbrochen. Vor der Tür zwinkerte er mir noch einmal zu und nickte dann.
„Keine Panik, wird schon . Gewöhnst dich schnell an alles, wirst sehen. Bis nachher.“
Dann fiel die Tür ins Schloss.
Meine Unterlagen waren in dem Büro geblieben, aber meine Tasche hatte ich bei mir behalten. Eine Weile lang starrte ich auf die geschlossene Tür und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Für einen kurzen Moment hätte ich alles für eine Zigarette gegeben, allein schon, um mehr zu tun, als sinnlos eine alte Tür anzustarren, aber ich hatte keine dabei und darüber war ich froh. Nicht in alte Muster verfallen – ich konnte Jenn förmlich hören, wie sie mir das predigte. Ich nahm meinen Autoschlüssel und machte mich auf den Weg zurück zum gelben Betonklotz.
Dort angekommen betrat ich das Gebäude, das so völlig anders war als das kleine Schloss im Wald, durch eine schmutzige Glastür.
Drinnen war es ruhig – ungewohnt für mich, wo um diese Uhrzeit an der Uni-Klinik, an der ich bisher gelernt hatte, bereits hektisches Treiben herrschte.
Eine kleine Theke war beleuchtet und eine übermüdet wirkende, ältere Dame saß dahinter und starrte teilnahmslos in ein buntes Magazin.

„Entschuldigung?“
Es waren nur wenige Schritte notwendig gewesen, um zu ihr zu gelangen.
„Hallo?“, holte ich erneut aus, nachdem sie auf meine erste Ansprache nicht reagiert hatte.
„Deutsch?“ Sie runzelte die Stirn, ohne von ihrem Magazin aufzusehen.
„Ja ehm.. Caecilia Norish, ich komme für mein PJ-Tertial zur Judas-Thaddäus-Stiftung. Ich soll hier aushelfen und..“
„Zweiter Stock, rechter Flur, dritte Tür.“
Sie hatte immer noch nicht aufgesehen und so langsam kühlte meine Laune auf arktische Temperaturen herunter. Waren hier eigentlich alle Menschen so unfreundlich?
„Vielen herzlichen Dank für die freundliche Auskunft“, knallte ich ihr mit wütend auf den Tresen und sah mich nach dem Aufzug um.
Oben angekommen blickte ich in lange Flure rechts und links, die jeweils durch eine Flügeltür aus Glas betreten werden konnten. Auf der Tür zum rechten Flur blätterte die Farbe von einer schmutzig grauen ‚4‘ ab und mit einem tiefen Seufzen trat ich in den hell erleuchteten Gang.
Da die Türen zu beiden Seiten des Flures abgingen, stockte ich kurz, als ich an der jeweils dritten Tür ankam, doch rechts stand die Tür weit offen und ich sah das beinahe vertraute Chaos von Akten, Kurven, Kaffeetassen, Computermonitoren, welche allerdings eher prähistorisch wirkten und einem überdimensionalen Drucker.
Auf einer Seite der zu einem großen Rechteck zusammengeschobenen Schreibtische saß eine junge Frau mit kurzen, struppigen, braunen Haaren und einer Stubsnase.
„Entschuldigung..“, murmelte ich und machte mich auf die nächste Unfreundlichkeit gefasst.
Die Frau sah auf, musterte mich kurz mit leuchtend grünen Augen, die in dunklen Höhlen lagen und runzelte die Stirn.
„Bitte sag mir, dass du Caecilia bist.“
„Ehm… ja.. aber Lia reicht. Und du?“
Sie klatschte mit beiden Handflächen auf den Tisch und stieß einen kleinen Freudenschrei aus.
„Ha! Endlich, darauf habe ich so sehr gewartet. Willkommen in der Hölle. Heute ist dein erster und mein letzter Tag und ich kann es kaum erwarten, das Zepter an dich weiterzugeben.“
Ich starrte sie ungläubig an und wartete auf irgendetwas, das den Inhalt ihrer Worte zu einem Scherz degradierte. Als nichts dergleichen kam, hakte ich nach.
„Das.. klingt ja, als hättest du eine tolle Zeit hier gehabt?“
„Oh – ja ganz außerordentlich“, raunte sie. „Du wirst, so wie ich und die Mädels vor mir, der persönliche Fußabtreter von Dr. Dracula, viel Spaß damit.“
Ich merkte, dass ich sie anglotzte, aber ich versuchte, einen Sinn in ihre Worte zu bringen und es wollte mir nicht gelingen.
„Bitte?“ mehr brachte ich nicht zustande.
Sie stöhnte und fuhr sich mit der Hand durch die Haarexplosion auf ihrem Kopf.
„Du – und die anderen Studenten, die dumm genug waren, hierher zu kommen – ihr seid die persönlichen Trottel und zwar vom Chef. Und nein, er heißt nicht Dracula aber er sieht so aus und er hat übrigens keinen Humor. Er ist ein Arsch, um genau zu sein. Mach dich darauf gefasst, dass du in vielen Nachtschichten arbeiten wirst, denn er ist nur nachts hier in der Klinik, tagsüber drüben in der Stiftung oder bei einem seiner Forschungsprojekte. Schlaf braucht er scheinbar keinen, aber das ist ja angeblich bei Chefärzten genetisch so umprogrammiert. Besser du verabschiedest dich auch ganz schnell vom Schlaf, denn es ist genug Arbeit für drei von uns.“
Ich glotzte immer noch.
„Jetzt guck nicht so. Ich habe es auch überlebt. Der Vorteil ist, du lernst ne Menge, der Nachteil ist, dass du sonst nichts siehst, was außerhalb der Klinik existiert, oder schläfst.. oder irgendetwas tust, was gut für dich ist. Ich hab 8 Kilo verloren in den vier Monaten hier.“
Sie lachte und griff hinter sich um einen zerknitterten Kittel zu angeln.
„Ich werde dir alles zeigen und dann wird mich dieses Haus hier nie wieder sehen.“
Sie stand auf und wollte an mir vorbei durch die Tür, aber ganz langsam erwachten meine Lebensgeister wieder aus dem Zustand völliger Schockstarre.
„Warte mal. Was ist mit Dr.. wie heißt er?“
Sie seufzte und sah mich an. Sie war ca. eineinhalb Köpfe kleiner als ich und sah tatsächlich so aus, als hätte sie seit langem keinen Schlaf mehr gehabt.
„Der Chefarzt heißt Professor Dr. Cretulescu. Er mag es nicht, wenn man viel redet oder Fragen stellt. Am besten redest du einfach gar nicht. Wenn du ihm auf die Nerven gehst, zieht er dich mit Fragen derartig aus, dass du das Gefühl hast, niemals studiert zu haben – er weiß einfach alles, also mach ihn am besten gar nicht erst wütend.“
Sie wollte sich an mir vorbei drängen, doch ich stemmte den Arm gegen den Türrahmen und versperrte ihr den Weg.
„Kann man ihn nicht irgendwie milde stimmen? Kaffee? Schokolade? Jeder Chef hat doch irgendetwas, worauf er freundlich reagiert.“
In Gedanken schweifte ich kurz zurück nach Deutschland und zu dem Chef der Chirurgie, der dort einfach von jedem geliebt wurde und der jeden Morgen einen doppelten Espresso zu sich zu nehmen pflegte – was auch jeder, der für ihn arbeitete, wusste, so dass er sich niemals selbst darum kümmern musste.
„Keine Chance. Er isst oder trinkt nie in der Klinik. Er sagt, das Essen und der Kaffee hier seien unterirdisch – womit er übrigens recht hat, also versuch es gar nicht erst. Und drüben – keine
Ahnung. Ich habe ein chirurgisches Tertial gemacht, also war ich so wenig wie möglich dort. Die Stiftung ist mir unheimlich und ich wollte mit den Irren da nichts zu tun haben“
„Aber..“
Sie unterbrach mich und schob meinen Arm weg.
„Caecilia – ich bin wirklich, wirklich müde. Du kannst jetzt mitkommen und dir von mir alles zeigen lassen oder nicht. Dann fahre ich eben nach hause und du musst selbst zusehen, wie du klar
kommst. Nächste Woche kommt noch ein anderer Student, der nur für die Chirurgie zuständig sein wird. Ihr teilt euch die Nachtschichten - sei dankbar, das hatte ich nicht. Und jetzt komm“
Sie wandte sich, ohne sich umzusehen der gläsernen Flügeltür zu und ich folgte ihr mit einem nur mäßig unterdrückten Kloß im Hals.