Ich denke, an niemandem wird vorbeigehen, was die letzten eineinhalb Jahre für unsere Freiheit, unsere Gesundheit, unsere Wirtschaft und viele andere Aspekte unseres Lebens ausgemacht haben. Nun beginnt sich alles ein bisschen zu normalisieren (dabei noch weit entfernt von echter Normalität) aber das wenige, was wir wieder dürften, fühlt sich für viele wie die große Freiheit an. Ich sehe lange Menschenschlangen vor Kaufhäusern und glückliche Gesichter an den Tischen der Restaurants und Cafés. Ob es so bleibt - wir wissen es nicht. Unser Leben ist abhängig geworden von Zahlen und Regeln, aber wir gehen damit um ... irgendwie.

Was mir bei all dem irgendwie zu kurz kommt, ist der Blick auf die Menschen, die es eben nicht schaffen, damit umzugehen und ich glaube, dass wir hier über eine sehr große Gruppe von Menschen sprechen. Ich rede dabei von solchen, die bereits vor der Pandemie eine psychische Erkrankung hatten, die sich verschlechtert hat oder von denjenigen, die durch die Pandemie überhaupt erst krank wurden. 
Dabei möchte ich ganz ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich mich hier nicht auf irgendwelche Studien beziehe. Es geht mir nicht darum, hier Zahlen herunter zu beten oder die Politik zu verunglimpfen. Ich möchte hier lediglich über meine persönlichen Eindrücke sprechen, die ich während dieser Zeit sammeln konnte. 

Als Ärztin in der Psychiatrie kriege ich natürlich etwas mehr davon mit, als jemand, der gar keinen Bezug zu diesem Fachgebiet hat. Dennoch kann man das, was ich erlebe, sehe und für mich persönlich bewerte in keinster Weise mit irgendeiner Art von Studie gleichsetzen - es ist einfach nur eine Sichtweise. 
Warum ist mir das wichtig?
Weil ich glaube, dass jeder, der ein bisschen darüber nachdenkt und danach vielleicht eine Spur offener seinen Weg weiter geht, ein kleiner Erfolg ist. 

Seit Beginn der Pandemie habe ich in drei Abteilungen verschiedener Kliniken gearbeitet. Dabei war eine Alkoholentzugsstation (mit Diensten im ganzen, auch geschlossenen Bereich einer Entzugsklinik für Drogen, Alkohol und Doppeldiagnosen), eine gerontopsychiatrische Psychotherapiestation und eine allgemeinpsychiatrische Psychotherapiestation. 
Überall zeigten sich die Auswirkungen der Krise, in jeder Altersgruppe zwischen 18 und 90, in allen sozialen Schichten und mit allen nur erdenklich verschiedenen Vorgeschichten. 

Natürlich liegen manche Schicksale näher an unserer Wahrnehmung als andere. Ich glaube, den meisten ist irgendwie klar, dass Menschen, die durch die Krise alles verloren haben, wie z.B. ihren Arbeitsplatz oder ihre Ersparnisse, nicht einfach lächeln und sagen "Ach, das wird schon wieder". Vielleicht gibt es ein paar, die das können, bestimmt sogar. Ich glaube auch, dass es Menschen gibt, die es geschafft haben, aus dieser Situation heraus etwas völlig neues für sich aufzubauen, manche sogar mit so großem Erfolg, dass sie jetzt mehr haben, als sie es sich je erträumt haben. Das wird es geben. Aber es gibt auch die, die vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens stehen und nicht mehr weiter wissen. Man konnte monatelang nicht wirklich etwas machen, zieht sich zurück, der Antrieb wird weniger, die Gedanken rattern rauf und runter und die Stimmung kommt aus dem Keller nicht wieder nach oben. 
Das gleiche findet sich bei vielen älteren Menschen, ganz besonders bei denen, die alleine sind (weil sie es immer waren oder weil der Partner oder die Partnerin bereits verstorben ist). Manche werden von ihren Kindern unterstützt - andere sitzen seit Monaten alleine zu hause. Die Gruppen (soziale Interaktion), die es, z.B. in Gemeinden, für solche Menschen gibt, dürfen ebenfalls seit Monaten nicht stattfinden. Man sitzt zu hause und wartet. Viele der älteren Menschen haben auch nicht die Möglichkeiten, wie die Generation, die sich mit Facetime, Discord, Netflix, ... irgendwie die Zeit vertreiben und trotzdem wenigstens via Video kommunizieren kann. Und selbst die jungen Menschen, die all diese Möglichkeiten haben, leiden. TikTok ist voll von realitätsverzerrten "wir chillen uns durch die Corona-Zeit" aber die meisten von uns wissen, dass das Unsinn ist. 
Homeoffice mag seine Vorteile haben, aber vielen fehlt der Kontakt zu den Kollegen und die Notwendigkeit dessen, morgens aufzustehen, sich zurecht zu machen und auf die Arbeit zu fahren. 
Singles sitzen zu hause und wühlen sich durch Tinder-Matches, um wenigstens ein bisschen das Gefühl zu haben, Menschen zu treffen. Aber ein echter Ersatz ist das auch nicht. 
In jeder zweiten Depressions-Anamnese, die ich in erhebe, spielt die Lage der vergangenen Monate eine nicht unerhebliche Rolle. 

Davon liest man im Übrigen auch in den Medien - immer mal wieder. Menschen werden depressiv, wenn sie zu lange zu einsam und ohne Aufgabe sind. Vermutlich haben wir das alle gelernt - sollte man zumindest meinen. Dennoch werden Depressionen immer noch nicht wirklich ernst genommen. Patient*innen berichten mir von Freunden und den Sätzen, die man dann eben so hört "Jetzt reiß dich doch mal zusammen" oder "Du brauchst nur mal wieder mehr Bewegung" oder "Jetzt stell dich doch nicht so an". Spoiler-Alarm: Das funktioniert nicht. 
So sehr es uns widerstrebt, das anzunehmen - Depressionen sind eine ernste Erkrankung, die wahrgenommen und behandelt werden sollte. 

Und dann sind da noch die Menschen, die anderweitig erkrankt sind. Da ist das breite Spektrum der Persönlichkeitsstörungen oder auch Krankheiten wie paranoide Schizophrenie zum Beispiel (und viele andere mehr). Auch hier wurde den Menschen das Leben massiv erschwert. 
Was denkt ihr, wie es sich auswirkt, und ich wähle bewusst ein hypothetisches Beispiel, wenn eine junge Frau mit Borderline-Störung ihre Anstellung oder ihren Schulungsplatz und die damit verbundene Förderung verliert und auf Grund von Geldsorgen wieder bei den Eltern einziehen muss, zurück in ein Gefüge, was letztlich aller Wahrscheinlichkeit nach, die Erkrankung mitverschuldet hat? Wie, denkt ihr, geht ein psychotischer Patient damit um, dass leider doch niemand mehr vom betreuten Wohnen oder Pflegedienst kommt, um die Medikamente herzurichten oder zu geben, die absolut notwendig sind, um die Krankheit im Griff zu haben?
Viele dieser Patienten habe ich gesehen mit massiver Verschlechterung ihrer Symptome. 
In der Sucht sieht es nicht anders aus - sehr tragisch besonders dann, wenn jemand es bereits geschafft hatte, eine Zeit lang abstinent zu leben und dann die Einsamkeit und Tatenlosigkeit zu hause nicht mehr ausgehalten hat. 

Und das ist immer noch nicht alles. Ich könnte jetzt weiter erzählen von Menschen, die an Corona erkrankten, die keinen einfachen Verlauf hatten und bis heute noch nicht mit dem Erlebten und den Nachwirkungen zurecht kommen. Genauso müsste ich all diejenigen mit erwähnen, die beispielsweise in medizinischen Berufen arbeiten, nicht nur Ärzt*innen und Pfleger*innen sondern alle anderen Berufsgruppen in diesem ganzen System, das seit Beginn der Pandemie auf verschiedene Weise massiv an die Grenzen getrieben wird. 

Am Ende der Geschichte bleibt doch nur das eine (und das war jetzt sehr viel Text für das eigentliche Fazit): Verschließt euch bitte nicht. Wenn ihr wahr nehmt, dass es jemandem, den ihr kennt, nicht gut geht, dass jemand sich völlig zurückzieht und sich irgendwie verändert hat, dann verurteilt nicht sondern bietet Hilfe an. Wenn ihr selber merkt, dass sich bei euch etwas verändert hat, wenn ihr das Gefühl habt, dass ihr euch überhaupt nicht mehr über etwas freuen könnt oder es euch schon schwer fällt, morgens aus dem Bett aufzustehen und die notwendigsten Dinge im Haushalt zu machen, wenn ihr merkt, dass ihr euch nicht mehr konzentrieren könnt oder sich eure Gedanken fortlaufend im Kreis drehe und ihr nichts dagegen machen könnt, dann bitte: sucht euch Hilfe, und wenn es erst einmal ein Termin in der hausärztlichen Praxis ist. Niemand bricht sich einen Zacken aus der Krone, wenn er über seine Probleme spricht und sich Hilfe sucht. Und wenn ihr das nicht schafft, holt euch jemanden ins Boot, dem ihr vertraut.

So - das war jetzt genug. Ich könnte zwar noch stundenlang darüber sprechen, aber ich denke, ich belasse es zunächst bei diesem, zugegebenermaßen noch sehr oberflächlichen Beitrag zu diesem Thema. 

Ich wünsche euch von Herzen alles Liebe, viel Kraft und Durchhaltevermögen, bis sich irgendwann wirklich alles normalisiert hat und viel Geduld und Umsicht mit anderen Menschen, die vielleicht eure Hilfe brauchen. Und bringt den aktuell massiv gestressten MFAs in der Hausarztpraxis, wo ihr euch impfen lassen wollt, Schokolade mit. Die haben gerade wirklich keinen Spaß mit ca 100000000 Anrufen pro Tag. :-)

Liebe Grüße