Category: Im Spiegel des Zorns

Kapitel 10 – Flüche und Bräuche

Als sie schließlich bei dem Höhlensystem angekommen war, spürte sie, dass er da war noch ehe sie ihn sah.
Sie sprang hektisch von ihrer Stute, die sie auf dem Weg hierher gnadenlos zu Höchstleistungen angetrieben hatte und rannte zu ihm.
Er saß gebeugt auf einem Felsvorsprung, den Speer in der Hand, den Oberkörper nur von einem Fell bedeckt und aus dem improvisierten Verband, den er trug, sickerte Blut, das sich auf dem Boden unter ihm bereits gesammelt hatte. Seine Haut war blass, seine Lippen farblos. Schatten malten sich in seinen Zügen ab, die nichts Gutes verhießen.
Ihre Augen flammten vor Zorn und Sorge.
„Was um alles in der Welt hast du dir dabei eigentlich gedacht?“ Ihre Stimme peitschte durch die Luft.
„Ich habe dich gefragt, ob etwas nicht in Ordnung ist und du? Warum belügst du mich? Warum riskierst du es, hier alleine in der Wüste zu sterben, anstatt mir zu sagen, dass du verwundet bist?“ Ihr Herz raste und er hob nur langsam den Blick zu ihr hinauf. Sein Blick war glasig.
Er schien etwas sagen zu wollen, doch noch ehe er die Lippen geöffnet hatte, kippte er zur Seite weg und sie konnte ihn gerade noch auffangen, ehe sein Kopf gegen den Felsen seitlich von ihm schlug. Mit einem Mal war aus Sorge und hilfloser Wut tiefe, verzehrende Angst geworden. Ihre Stimme wurde auf einen Schlag wieder sanft, während sie seinen Kopf ruhig in ihrem Schoß bettete und zu ihm hinab sah. Vorsichtig hauchte sie einen Kuss auf seine Stirn und fragte ganz leise:
„Vertraust du mir..?“
Sie schloss die Augen und wartete auf das, was er anworten würde.
„Nafsi yangu maua..“ seine Stimme war dünn und erschöpft „.. ich vertraue dir..“ Wieder ein Stich in ihr Herz.
Sie war sein Vertrauen nicht wert und dieser Gedanke trieb ihr für einen Moment die Tränen in die Augen.
Schweigend sah sie auf diesen Mann hinab, der größte Jäger, den sein Weg je hervorgebracht hatte. Hier lag er in ihren Armen und war dem Tode näher als dem Leben und ahnte nicht einmal, dass sie für ihn mehr Feind hätte sein müssen, als die beiden, die er in Al’Bajaar getötet hatte.
Dieser Gedanke schmerzte sie so sehr, dass sie nicht verhindern konnte, dass sich einige Tränen vom Kranz ihrer Wimpern lösten und den Weg über ihre Wangen fanden. Doch dann schüttelte sie trotzig den Kopf. Es war nicht die Zeit für Tränen und Trauer – es war Zeit zu handeln.
„Ich werde dir helfen“, flüsterte sie und löste den Verband.
Was sie sah, stimmte sie nicht zuversichtlicher.
Die Waffen der Arkanta waren tückisch. Seit Generationen suchten sie Wege, um leise und ungesehen töten zu können. Sie waren ein elitärer, eigensinniger Geheimbund, von dem nur die wenigsten in Fallacon wussten, dass er überhaupt existierte – und selbst von denen, die einmal von den Arkanta gehört hatten, wusste kaum einer, wie tödlich ihre Klingen tatsächlich waren. Sanft und sacht strichen ihre Hände über die Linien seines Oberkörpers bis hinab zu den beiden Wunden, die man ihm geschlagen hatte, während sich das mit Edelsteinen besetzte Kleid, das sie trug, tiefrot von seinem Blut färbte.
„Nuru yangu..“ .. sie hauchte die Worte nur und die Sorge in ihren Zügen wurde immer tiefer. Sie spürte deutlich die dunkle Ahnung des Todes, die die Waffen der Attentäter in ihm zurückgelassen hatten – ein Fluch, den sie verabscheute, so, wie sie den größten Teil der Magie verabscheute, die in Fallacon gewirkt wurde. Mit geschlossenen Augen lauschte sie tief in ihn hinein und ihre dunkelsten Befürchtungen bestätigten sich. Der Fluch fraß sich tief und tiefer in seine Seele und hatte schon so viel davon zerrissen, dass es unmöglich war, ihn zu heilen. Weder die Magie ihrer Lieder, mit denen sie ein Seelenlied und somit auch den Körper, wieder zusammensetzen konnte, noch das Feuer des Roten, das ihr die Macht verlieh, Wunden, Gift, Magie und Flüche aus einem Körper zu brennen, würden hier noch helfen.
Verzweifelt sah sie sich um – was sollte sie tun?
Hastig gruben sich ihre Zähne in ihre Unterlippe, als sie plötzlich eine Idee hatte.
„..alles wird gut..“ flüsterte sie. Sie sah ihn an und erkannte den tiefen Schatten in seinen Augen ehe seine Lider sich flatternd schlossen und sein Atem flacher wurde. Der Fluch der Arkanta verletzte die Seele, so, wie die Klinge das Fleisch.
So war es möglich, dass das Blut in diesen Wunden nicht gerinnen konnte und der Verwundete von einer tiefen Schwäche und furchtbaren Schmerzen heimgesucht wurde.
Sie hatte andere unter Verletzungen wie diesen verzweifelt um ihr Leben flehen sehen, gepeinigt von Schmerz, den sie selbst auf der Schwelle des Todes nicht beherrschen konnten. Wie viel kostete es ihn, dies nicht zu zeigen?
Sie atmete tief durch und lauschte in sich hinein.
Eine Seele war für sie sichtbar in Form eines Liedes. Sie hörte den Klang, die Melodie, die im Laufe des Lebens immer mehr an Gestalt gewann, geformt von den Dingen, die man erlebte und die einen prägten. Sie sah es, wie ein feines Gespinst zahlloser leuchtender Linien, die ineinander verwoben und miteinander verbunden waren.
Und tief in sich sah sie, was sie selbst ausmachte, hörte den Klang und sah das Licht, das auf so viele Arten in vielen Farben schimmerte.
Langsam nahm sie eine dieser Linien, schweigend, stumm, nur fokussiert auf den Klang, die Hände auf seine Wunde gepresst um zu verhindern, dass er noch mehr Blut verlor. Dieses Licht, diesen hauchdünnen Faden ihrer Seele, wob sie in die seine, verschloss damit den Schaden, den die von dunkler Magie getränkte Klinge der Arkanta in seiner Seele angerichtet hatte. Stück für Stück setzte sie wieder zusammen, was zusammen gehörte und fühlte, wie der Klang seiner Seele wieder zu einem Lied wurde.
Es war anstrengend und sie fühlte, wie sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Ein nicht unerheblicher Teil ihrer Kraft floss in diesem Augenblick zu ihm, um ihn am Leben zu halten. Sie atmete, konzentrierte sich, lauschte und nickte schließlich kaum merklich.
So, wie ein winziger Teil seiner Seele in ihr leuchtete, verwurzelt durch die Luishja, so erstrahlte nun ein kleiner Teil von ihr in ihm. Und sie, deren Wunden sich schneller schlossen, als die von Menschen, konnte ihm davon etwas geben, ließ diese Macht in ihm wirken und fühlte, wie auch die Wunden auf seinem Körper sich langsam schlossen während ihr der Schweiß in die Augen lief.
„Nuru yangu..“.. flüsterte sie erneut und sanft in sein Ohr, hauchte einen Kuss auf seine Lippen und sackte dann schließlich zur Seite.
Was sie getan hatte, war so anstrengend gewesen, dass es ihr für einige Augenblicke das Bewusstsein raubte.

Als sie die Augen wieder öffnete, war sie nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war. Sie streckte sich und merkte, dass sie eine ganze Weile so auf dem harten Fels gelegen haben musste. Rasch suchte ihr Blick nach ihm. Sein Atem ging ruhig und dennoch wirkte er blass. Erschöpft stemmte sie ihre Fäuste gegen den Fels um sich aufzurichten. Ihr Schädel pochte schmerzhaft und vor Wut über seinen Fehler knirschte Sie immer noch mit den Zähnen.
"Es hätte unsere Nacht werden sollen, eine Festnacht wie keine andere. Ich wollte dir die Bräuche und Traditionen zeigen" sie schüttelte mit dem Kopf. "Eine Erinnerung die uns niemand hätte nehmen können, doch es ist mir anscheinend verwehrt...". Sie war wütend und verletzt, fühlte sich vom Schicksal einmal mehr betrogen um etwas, was ihr wichtig gewesen war.
Plötzlich öffnete er die Augen und langsam kehrte das tiefe Blau des Meeres in sie zurück. "Du bist hier Nafsi yangu maua" seine Stimme wurde wieder fester. "Ich habe von dir geträumt, von dir und mir auf der Hochzeit."
Lauriel schüttelte erneut den Kopf und Ihre Stimme peitschte wieder durch die Luft, "Was hast du dir dabei gedacht? Willst du hier sterben? Warum hast du nicht geantwortet als Ich dich gefragt habe? Warum?"

Alkanas setzte sich langsam, immer noch die Seite stützend hin. Er sagte nichts, er sah sie einfach nur an und versank in Ihren Augen. "Willst du mir nicht antworten?" immer noch flammte Ihr Zorn hoch. Was er Ihr entgegnete entwaffnete Sie, "Dann wäre ich in deinen Armen gestorben Nuru ya macho yangu."
Er zog Sie zu sich und küsste Sie. Anfangs war Ihr Widerstand noch stark und heftig, doch je länger der Kuss dauerte, desto geringer wurde er. Als sich Ihre Lippen von den Seinen lösten, hauchte er nur "Asante nyota yangu."

Sie suchten sich einen geschüzten Platz in den Höhlen und er bereitete ein Nachtlager zu, es verwunderte Ihn, dass sich seine Wunden so schnell geschlossen hatten und dennoch fragte er nicht nach.
"Ich habe eine Bitte nyota yangu" sagte er in Ihre Richtung und erneut schnürte es Ihr den Hals zu. War es nicht genug für heute? Sie fühlte sich zu müde, um seine Fragen zu beantworten ohne zu lügen oder sich zu verraten.
"Leg dich zu mir und erzähle mir von den Bräuchen und Traditionen Al´Bajaars, in deinem Schoß möchte ich davon träumen, was uns heute entgangen ist... ... Verzeih mir, ich wollte nicht, dass das
Fest für dich so endet nafsi yangu maua."
Sie sah ihn an und ihr Blick wurde warm und ruhig.
Der Zorn war verflogen – so schnell, wie vielleicht noch nie zuvor in ihrem Leben und ein sanftes Lächeln legte sich über ihre Lippen.
„Wenn das dein Wunsch ist, nuru yangu.. komm..“
Und sie nahm seine Hand um ihn zu ihrem Lager zu ziehen, wo sie sich im Schneidersitz niederließ, so dass er sich so hinlegen konnte, dass sein Kopf tatsächlich in ihrem Schoß lag.
Sanft strich sie durch sein Haar und spielte mit den einzelnen Haarsträhnen während sie leise zu erzählen begann.
„Es gibt so viele Bräuche.. wo soll ich nur beginnen..“
Ihre Fingerspitzen strichen über seine Stirn und wieder zurück in sein Haar.
„Das Fest wird viele Wochen lang vorbereitet und beginnt mit dem Vorabend der eigentlichen Hochzeit.
An jenem Abend wird die Braut von ihren Bediensteten gebadet und mit Düften besprüht. Sie wird in kostbare, bunte Seide gehüllt und ihre Hände und Arme werden in aufwändigen Mustern bemalt mit einer Paste aus getrockneten Pflanzen und Tee – diese Farbe bleibt, auch nachdem man sie abgewaschen hat, viele Tage lang erhalten.
Die ganze Nacht über wird sie bewacht und es werden stündlich wechselnd mit Yasmin und Amber beträufelte Tücher über ihr ausgebreitet, damit ihr Duft zum nächsten Tag angenehm ist.“ Sie lächelte kurz, als sie an ihre eigene Vorliebe für Yasmin dachte.
„Am nächsten Tag erhält der Bräutigam dann sein Hochzeitsgewand von den Männern seiner Familie als Geschenk und muss sich ankleiden.
Er muss an jenem Tag noch einmal zum Vater der Braut und mit ihm sprechen und dieses Gespräch ist ein langes, denn der Vater der Braut muss sich ein letztes Mal absichern, dass der Mann, der ausgesucht wurde, auch der richtige für seine Tochter ist.“ Sie seufzte leise und schloss die Augen.
„Eigentlich ist es ja gar nicht das, was wir gesehen hätten, nuru yangu…“
Sie sah zu ihm herab und strich sanft über die Linien seines Gesichtes, sah auf seine entspannt geschlossenen Augen und lächelte.
„Was ich dir zeigen wollte, waren die Feierlichkeiten der Stadt zu diesem Anlass..“ Ihre Stimme wurde sanfter und bekam einen beinahe verträumten Klang.
„Die Menschen tanzen – überall in der Stadt sind Musik und Tanz. Dabei ist es nicht die Art Tanz, die man in anderen Gebieten dieser Welt kennt – es ist ein.. emotionaler und sinnlicher Tanz, den es nur hier in Osarien gibt… Überall werden Speisen gereicht und süße Weine, die mit Honig und Muskat gewürzt sind.
Es werden kleine Kuchen verteilt, die vom Hofe des Sultans stammen und in jedem hundertsten findet sich eine kleine Kostbarkeit – ein Stein, eine Perle – irgendetwas Wertvolles.
Die Menschen hier glauben, dass diese Nächte – Nächte in denen ein Mitglied der Sultans-Familie heiratet – von den Drachen gesegnete Nächte sind, in denen alles geschehen kann und Wünsche in
Erfüllung gehen. Darum ist alles schlechte, jedwede Kriegshandlung oder Blutvergießen in diesen Nächten strengstens verboten.“
Ein dunkler Schatten huschte kurz über ihre Augen, als sie über ihren Besuch am Hof des Sultans nachdachte, rasch jedoch wischte sie dies beiseite und ließ das Lächeln auf ihre Lippen zurückkehren.
„Es sind Bedienstete des Palastes in den Straßen unterwegs und verteilen bunte Bänder, die sie den Leuten um Hals und Handgelenke legen. Sie sind wunderschön, aus bestickter Seide und mit Perlen besetzt.
Und wenn sie auf ein Paar treffen, binden sie dessen Hände zusammen, auf dass das Glück sie niemals verlassen möge.
Wenn das Paar im Palast sich das Versprechen für die Ewigkeit gegeben hat, lassen sie von den Palastmauern aus bunte Vögel in den Himmel steigen, die Körbe voller Blumen tragen, die schließlich auf die Menschen herabregnen und dann…“
Ein leichter Schimmer legte sich über ihre Augen, ehe sie weitersprach. Es schmerzte sie, all das vor ihrem geistigen Auge zu sehen und zu wissen, dass sie es versäumt hatten.. und noch mehr schmerzte sie das Wissen, dass sie niemals ein solches Fest feiern würde – nicht als die, die sie war. Plötzlich fühlte sich die Unsterblichkeit ihrer Seele wie eine entsetzlich schwere Last an, unter der sie zu ersticken drohte und sie schluckte, versuchend, weiterzusprechen.
„… dann.. zu später Stunde in der Nacht werden kleine Laternen entzündet. Sie sind aus Papier und man schreibt seine Wünsche darauf und wenn man die Kerze entzündet, werden diese Laternen in den Himmel hinaufgetragen.. sie schweben einfach davon.. und man sagt.. dass die Wünsche, die darauf geschrieben stehen.. irgendwann in Erfüllung gehen…“

Lauriel wandte ihr Gesicht dem Höhleneingang und der dahinter liegenden Nacht zu und als habe sie es gespürt, sah man weit in der Ferne über der Stadt tanzende Lichter in den Himmel steigen. Sie schluckte und fragte sich, welchen Wunsch sie zu den Sternen geschickt hätte und - welchen er.
Sie sah zu ihm herab, wie er dort lag, die Augen geschlossen und ruhig atmend, sah seine, in diesem Moment so friedlich wirkenden Züge, die ihr längst vertraut vorkamen. Vermutlich war er eingeschlafen, was nicht verwunderlich war, nach dem furchtbaren Blutverlust, den er erlitten hatte. Vorsichtig wand sie sich unter ihm hervor, saß noch eine Weile neben dem Lager und sah ihn an – dann ging sie vor die Höhle und ließ sich dort auf die Knie sinken.
Von der Stadt her tanzten die Lichter im leichten Wind heran. Hoch und immer höher schwebten sie dem Himmel entgegen und sie starrte hinauf, als könnte sie ihre eigenen Wünsche dort verankern, in den zahllosen Hoffnungen und Träumen, die gerade ihren Weg durch die Nacht zogen.
Sie sah hinauf und hatte das Gefühl, sie würde zerreißen unter dem Wunsch, glücklich sein zu dürfen und fast erschrocken über sich selbst verbarg sie schließlich das Gesicht in ihren Händen und begann hier, wo niemand sie sah außer der Nacht, den Sternen und den stillen Sehnsüchten der Bewohner Al’Bajaars, bitterlich zu weinen.