Kapitel 2 – Dunkle Träume
Eilig und doch von einer seltsamen Ruhe erfüllt schritt Alkanas durch die Straßen Al’Bajaars, doch anders, als am Tag zuvor, hatte er kein Auge für die Schönheit der Stadt oder all die Besonderheiten, die auf dem Markt und in den kleinen Läden der schmalen Gassen feilgeboten wurden.
Sein Blick war fokussiert und klar und seine Schritte folgten einem Ziel, welches er nicht gewillt war, aus dem Griff seiner Gedanken zu lassen.
Lange hatte er in der Nacht noch vor den Toren der Stadt unter den Sternen gesessen und das Geschehene in sich nachklingen lassen. Was war an dieser Frau, was ihn so faszinierte?
Er hatte in den Nachthimmel geblickt und sich an ihre Stimme erinnert, wie sie die Legende über Ashant und die Engel des Silbernen Drachen erzählt hatte. Er hatte sich an das Gefühl erinnert, dass sie, ebenso wie er, viel älter sein musste, als es den Anschein nahm, denn aus ihren Worten sprach ein Wissen, das lange vor Beginn dieses Zeitalters lag.
Abrupt blieb Alkanas stehen, als er die Unterkunft erreicht hatte, von der man ihm gesagt hatte, dass sie hier wohnen würde.
„Hey..“, rief er dem alten, dürren Mann zu, der vor dem Eingang saß und die Sonne auf sein dunkel gegerbtes Gesicht scheinen ließ.
„Was denn?“, der Mann öffnete nicht einmal die Augen.
„Ich suche eine Frau, die hier wohnt – sie heißt Shadia. Wo finde ich sie?“ Der Mann öffnete ein Auge und betrachtete damit kurz den Hünen vor sich. „Abgereist.“
Alkanas trat näher an ihn heran, so dass sein Schatten auf den Mann fiel und dieser schließlich beide Augen öffnete, um dann zu bemerken, dass in Alkanas Gesicht ein Ausdruck lag, der ihn schlucken ließ.
„Wann?“, fragte Alkanas, ohne den Blick aus den trüben, blassgrauen Augen des Mannes zu wenden.
„Diese Nacht. Sie.. ritt in Richtung Westtor.“
Alkanas knirschte mit den Zähnen und nickte kurz.
„Wo ist ihr Zimmer?“
Der Mann stand auf und streckte sich, nur, um zu merken, dass Alkanas ihn dennoch um mindestens zwei Köpfe überragte.
„Was geht euch das an?“, versuchte er es mit dünner werdender Stimme.
„Ich fragte .. welches Zimmer.“
Alkanas Blick bohrte sich in den des Mannes und dieser schluckte schließlich und hob die Schultern. „Ist ja gut. Die Treppe hinauf und die zweite Tür links.“
Kaum war der Satz gesprochen, war Alkanas auch schon die Treppe nach oben gehastet und hatte die Tür zu dem kleinen, schlichten Raum aufgedrückt. Ein Bett, eine Truhe, ein Fenster. Nicht mehr. Neben dem Bett stand halb ausgetrunkener Tee und als er die Truhe öffnete, fand sich darin ein Schleier, dunkelblau und silbern schimmernd, wie der Sternenhimmel.
Alkanas hob den Schleier an sein Gesicht. Er gehörte ihr, zweifellos. Er nahm ihren Geruch wahr sowie den Duft ihres Parfums, Yasmin mit einem Hauch Orange.
Dann grinste er.
Er hatte, was er brauchte.
Rasch eilte er die Treppe hinunter, während er ein Stück Wurzel aus einer seiner Taschen hervorzog und begann darauf zu kauen. Es dauerte nicht lange, bis sich all seine Sinne auf einen bestimmten Punkt fokussierten und ein erwartungsvolles Grinsen seine Lippen umspielte.
Die Fährte lag vor ihm, wie ein roter Faden, der sich bis in die Wüste zog.
„Wo bekomme ich ein schnelles Pferd?“
Er sah den alten Mann nicht einmal an, als er die Frage stellte.
„Ehm.. ihr.. könnt Madavri fragen. Die Straße geradeaus und dann die zweite Gasse links.“
Er hatte den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da war Alkanas auch schon verschwunden.

Über Elitawana lagen dichte Regenwolken und die Luft war kalt und drückend.
Layna, die Stimme der Zeit, saß in der Bibliothek und starrte in eine kristallene Schale, die mit Wasser gefüllt war.
„Könnt ihr mit dieser Schale in die Zukunft sehen, Herrin?“
Ein dünnes Mädchen mit struppigem, aschblondem Haar und einfacher Kleidung sah zu der Frau, deren Züge konzentriert und angespannt wirkten.
Der Hauch eines Lächelns huschte kurz über die Lippen der Frau, dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein, Miana, es hilft mir nur, meine Gedanken zu sortieren, wenn ich hinein blicke.“
„Was muss man tun, wenn man so werden möchte wie du? Kann ich es bei dir lernen?“
Laynas tiefe, graue Augen schweiften von der Wasseroberfläche hinaus aus dem Fenster und über die Wälder hinweg.
„Du kannst nicht lernen, eine Stimme der Zeit zu werden, Kind. Du wirst mit dieser Bürde geboren oder nicht.“
Layna seufzte leise und strich das schlichte, graugemusterte Leinenkleid, das sie trug, glatt während sie aufstand.
„Schade.. ich wäre gerne wie du. Jeder hier bewundert dich und alle sind ganz aus dem Häuschen, wenn du zum Tempel kommst.“
Layna runzelte die Stirn und während sie an das Fenster herantrat, sprach sie leise, ohne Miana anzusehen.
„Glaub mir, Liebes, du solltest froh und dankbar sein, nicht so zu sein wie ich. Nichts daran bedeutet Freude oder Glück.“
Der Zug um ihren Mund wurde bitter und ihr Blick heftete an der Ferne, weit über die Wälder hinweg in den Süden hinein, wo sie das Meer wusste.
„Man wird geboren, um Dinge zu sehen, von denen man nicht weiß, ob sie geschehen werden, oder ob man sie erst geschehen lässt, indem man sie ausspricht. Ich sehe Dinge, die mich erschrecken und mir das Herz zerreißen und bei jedem dieser Dinge muss ich abwägen, was davon die Drachen wissen sollten und was nicht. Glaub mir, diese Aufgabe willst du nicht und auch sonst niemand auf dieser Welt.“
Miana sammelte einen leeren Becher, eine Karaffe mit Wasser und einen leeren Teller ein, die nahe dem Platz standen, an dem Layna eben noch gesessen hatte.
„Aber ist es nicht unglaublich aufregend zu wissen, was die Zukunft bringen wird?“ Ihre Stimme bebte vor Bewunderung und Anspannung.
Layna hingegen schüttelte nur müde den Kopf.
„Nein.. keineswegs. Und jetzt bringe bitte die Sachen weg.“
Als das Mädchen die Bibliothek verlassen hatte, starrte Layna noch immer in die Weite über den Wäldern, die den Tempel und die strahlende Stadt um ihn herum umgaben. Sie liebte es, hierher zu kommen, wo alles anders war.
Hier war der Krieg fern und die Menschen lebten in Frieden. Hier waren die Wege der Drachen in Gemeinschaft vereint und trachteten sich nicht nach dem Leben.
Die Abgeschiedenheit der Tempelstadt legte eine Ruhe über alles, die sie mehr als alles andere zu schätzen wusste.
Doch verhinderte ihre Anwesenheit in Elitawana nicht, dass sie die Wege des Schicksals sah und erkannte. Wenn sie die Augen schloss, sah sie vor sich einen Mann ungestüm durch die Wüste reiten, einer Fährte folgend, die er nicht bereit war, aufzugeben.
Langsam, ganz langsam wandte sich Layna schließlich vom Fenster ab und öffnete die Augen, um ihr Gemüt von den zahllosen Schriften und Büchern um sich herum beruhigen zu lassen, doch wollte ihr dies nicht wirklich gelingen.
In ihrem Kopf hallten der Klang der Hufe auf glühendem Sand und der Gesang einer Frau, der die Fäden des Schicksals neu miteinander verknüpfen konnte.
„Was habe ich getan..“, flüsterte sie.
Und zum ersten Mal, seit sie das Zeitalter des Zorns ausgerufen hatte, weinte sie.

Lauriel saß schlafend an einen Felsen gelehnt in einer kleinen Oase, die etwas mehr als einen Tagesritt von Al’Bajaar entfernt in der Wüste versteckt lag. Die Sterne funkelten über ihr doch der Himmel am Horizont verriet mit einem blassen Blau bereits das Nahen des Morgens.
Sie kannte und liebte diesen Ort und hatte schon oft Zeit hier verbracht, wenn sie Osarien besuchte. Hier herrschte Frieden. Hier konnte sie ihren eigenen Gedanken Raum geben und Kraft schöpfen, ehe sie sich auf den Weg zurück in den Krieg machte.
Doch die Bewegungen ihrer Augen unter den geschlossenen Lidern waren hektisch und Schweiß stand auf ihrer Stirn.
Tief in ihrem Traum sah sie das gleiche, wie jede Nacht, in der sie versuchte, Schlaf zu finden. Sie blickte in Augen, die so schön waren, wie grausam. Wie ein See im tiefsten Wald strahlten sie blau und grün demjenigen entgegen, der hineinsah. Doch unter der Oberfläche lagen scharfe Felsen, die jeden, der dumm genug war, hineinzuspringen, zerfetzen würden.
Diese Augen verfolgten sie, obgleich sie jenen, zu dem sie gehörten, nur einmal aus der Nähe gesehen hatte.
Dargass – König des Wandels auf dem Weg des Grünen Drachen. Er war die Waffe, die erschaffen wurde, um die Legendenweber, vor allem sie, da sie die Legendenweber an die Seite des Roten gerufen hatte, zu jagen und zu töten.
Als er vor wenigen Jahren vor ihr stand, hatten siebzehn Rote Streiter ihr Leben gelassen, um ihn daran zu hindern, zu ihr zu kommen, während der Rest der Truppe sie gewaltsam mit sich fort zerrte. Sie hatte sie angeschrien und geflucht, dass sie nicht fliehen würde, vor niemandem und dass sie gegen ihn kämpfen wollte.
Doch die Roten hatten nicht auf sie gehört. Es war das erste Mal gewesen, dass sie sich so offen ihrem Befehl widersetzt hatten, doch waren bereits vier Legendenweber durch Dargass Hand getötet worden und es gab Geschichten darüber, dass eine kleine Wunde, die er schlug, bereits genügte, um den Tod zu bringen.
Zorn hatte sie zerfressen, verfolgte sie sein Blick doch schon seit seiner Erschaffung in ihren Träumen. Dann hatte sie seine Stimme vernommen, die über das Schlachtfeld hallte, während er seine Klinge durch seine Feinde führte und den Boden mit Blut tränkte. „Ich werde dich finden, Lauriel!“
„Ich werde dich finden..“ .. Seine Stimme war wie eine Klinge in ihren Träumen, jede Nacht, so, wie sein Blick. Als machte der Grüne Drache sich über sie lustig, indem er ihre Träume mit Angst und Schmerz vergiftete.
„Nilakupata..“.. die Worte der alten Sprache drangen an Lauriels Ohr und sie riss die Augen auf und schrie, als sie ein Paar blaue Augen vor sich sah.
Wie Schraubstöcke schlossen sich riesige Hände um ihre Handgelenke und hielten sie nur umso fester, als sie versuchte, sich dagegen zu wehren.
„Es ist gut, was immer es war, es war nur ein Traum.“
Lauriel blinzelte atemlos und erkannte die Züge des Mannes, vor dem sie aus Al’Bajaar geflohen war. Ihr Herz raste und schlug bis in ihren Hals. ‚Nilakupata – ich habe dich gefunden‘, noch immer brannte Dargass Blick in dem verschwindenden Nebel ihres Traumes.
„Du .. sprichst die alte Sprache?“
Sie sah Alkanas an und ganz langsam, Muskel für Muskel, entspannte sie sich wieder.
„Du verstehst sie?“
Lauriel presste die Lippen aufeinander.
Er hatte sie getestet und sie war darauf hereingefallen.
„Mein Vater hat sie mir beigebracht.“ Das war nicht gelogen.
Alkanas nickte und ließ sie los.
Ruhig sah er sie an und wo er zuvor noch grimmig auf der Jagd nach ihr gewesen war, legte sich jetzt eine seltsame Art von Milde über seine Züge, die sich schließlich in einem Lächeln auf seinen Lippen spiegelte.
„Du bist weggelaufen. Warum?“
Lauriel sah zu ihm hinauf und seufzte.
„Komm, wir gehen ein wenig spazieren.“