Kapitel 5 - Erinnerungen
Der Mond stand hell am Himmel und erfüllte die Nacht mit seinem silbrig schimmernden Licht. Lauriel und Alkanas saßen an einem Feuer, über dem zwei Wüstenkaninchen, die mit Kräutern eingerieben waren, einen herzhaften Duft verströmten.
Sie hatten viel gelacht und waren mehr durch die Dünen gestolpert, als geschlichen. Ein Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit hatte sich über beiden ausgebreitet und sie hatten sich beide an diesem Gefühl betrunken.
Als sie in der Oase angekommen waren, hatte sie schnell Holz aufgeschichtet und das Feuer mit einem Hauch ihres Atems zum Lodern gebracht, als er gerade nicht hinsah, weil er die Kaninchen ausweidete.
Jetzt blickte sie in die Flammen und schwieg, ruhig an seine Schulter gelehnt.
Alkanas drehte in regelmäßigen Abständen den Stock, auf dem das Fleisch vor sich hin briet.
„Woran denkst du?“, fragte er ruhig in die Stille hinein.
Ein bitteres Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie versuchte, genau das nicht zu tun. Sie wollte nicht denken, denn dann kam der Krieg zurück, die Verantwortung, die Pflicht und ihre Rolle in dieser Welt.
Langsam schloss sie die Augen und atmete tief durch.
Jede Antwort auf seine Frage, wäre eine Lüge gewesen und so tastete sie nur vorsichtig nach seiner Hand, schob ihre Finger zwischen die seinen und begann leise und sanft ein Lied zu singen.
Sie sang von Mond und Sternen, vom Licht des Silbernen Drachen und der Dunkelheit des Schwarzen.
Alkanas lauschte, dann flüsterte er:
„Bitte hör nicht auf“, und erhob sich. Als er wiederkam hielt er eine Bodhran in den Händen, ließ sich wieder neben ihr nieder und trommelte leise einen ruhigen Rhythmus zu ihrem Lied.
Die Bitterkeit war fort und an ihre Stelle waren Nähe und Innigkeit getreten, die Lauriel beinahe schmerzlich in den Sinnen brannten.
Dann waren die letzten Töne verklungen und er lächelte, zog sie etwas näher an sich und küsste sanft ihr Haar.
„Ich habe selten so etwas Schönes wie deine Stimme gehört, Shadia. Im Sturmwald haben wir auch einen Sänger – ich wünschte, ich könnte ihn dir zeigen. Wenn er singt, hören alle zu, weil er mit seinen Liedern Bilder in die Herzen der Jäger schreibt. Das würde dir gefallen. Sein Name ist Nabu.
Einige behaupten, er sei ein Legendenweber – aber das kann nicht sein, denn die Hexe des Roten
Drachen hat alle Legendenweber nach Fallcon gerufen.“
Lauriels Herzschlag setzte für einen Augenblick aus und hätte er in ihr Gesicht geblickt, hätte er die Blässe gesehen, die sich darüber ausbreitete.
Seine Worte waren wie ein Messer in ihrer Brust. ‚Die Hexe des Roten Drachen‘
Tränen stiegen in ihrem Blick auf und sie blinzelte schnell, um sich nicht zu verraten.
Doch nicht weniger als seine Beschimpfung, schmerzte sie der Name, den er ausgesprochen hatte. Sie kannte Nabu – besser als Alkanas ihn kannte – besser vermutlich, als irgendjemand ihn kannte.
Sie schloss die Augen und gab sich den Erinnerungen hin.
Wie lange war es nun her? Sicherlich mehr als dreihundert Jahre.
Vor ihren Augen breitete sich die unendliche Wüste Al’Bajaars aus. Hier war sie geboren worden und hier war damals ihr zu Hause gewesen.
Die Nomadenstämme der Wüste, die an den Roten Drachen glaubten, waren ein einfaches und sehr direktes Volk. Sie kamen mit wenig aus und hatten gelernt, trotz der schwierigen Bedingungen in der Wüste, ein zufriedenes Leben zu führen.
Lauriel erinnerte sich an die Tage, der ihr Leben veränderten.
Nabu war gerade einmal drei Jahre alt und hatte sich, wie so oft, in ihrem Zelt versteckt. Sie kannte ihn seit seiner Geburt, da sie diejenige war, die seiner Mutter bei der Entbindung geholfen hatte.
„Nabu.. wovor versteckst du dich diesmal?“
Sie versuchte streng zu klingen, aber es gelang ihr nicht so recht.
„Ich will nicht jagen“, schmollte die helle Stimme hinter den Kissen ihres Bettes.
„Nabu, du kannst gar nicht jagen.“
Sie lachte laut, als sich ein paar helle Locken und ein Paar große Augen darunter über einem der Kissen zeigten.
„Aber Vater sagt, ich muss es lernen.“ Sie lächelte, als sie ihn ansah.
„Ja, Nabu, das solltest du auch. Irgendwann bist du groß und dann musst du mithelfen, den Stamm mit Nahrung zu versorgen.“
Die Augen über dem Kissen wurden schmal.
„Ich will nicht jagen.“
Lauriel seufzte leise, ging zu ihm hinüber und zerstrubbelte ihm das Haar.
„Los jetzt, deine Eltern machen sich sonst Sorgen.“
„Na gut..“, brummelte er vor sich hin und kam hinter dem Bett hervor.
„Aber..“, er sah sie an und zupfte an ihrem Gewand.
Lauriel sah zu ihm hinab, langte in einen ihrer Beutel und zog eine halbe Hand voll Datteln hervor, die sie ihm gab. „Jetzt aber los!“
„Ist gut.“
Er tapste in Richtung Ausgang.
„Was sagt man?“
„Danke, Lauriel.“
„Aha..“, murmelte sie vor sich hin und schmunzelte.
Es war der letzte unbeschwerte Tag in seinem Leben gewesen.
Einen Tag später wurde ihr Stamm angegriffen.
Sie waren wie aus dem nichts gekommen. Keine Schergen des Sultans, auch keine Räuber. Lauriel hatte sie noch nie gesehen und die anderen auch nicht.
Sie waren völlig verhüllt in schwarzen Gewändern mit dünnem, rotem Tuch, das sogar ihre Augen bedeckte.
Sie kamen auf riesigen schwarzen Pferden und die ersten Roten waren bereits gefallen, ehe sie wirklich begriffen, dass sie angegriffen wurden.
Lautlos waren sie gewesen – wie Geister, nur mit sehr realen Klingen.
Lauriel saß in ihrem Zelt und schrieb in eines ihrer Bücher, als sie die Schreie hörte und nach draußen stürmte.
Das erste, was sie sah, war Blut. Blut, das den hellen Wüstenboden tränkte und darin versickerte.
Dann sah sie Nabu.
Er stand dort mit weit aufgerissenen Augen, drei der unheimlichen Reiter vor ihm und zwei von ihnen hielten die abgetrennten Köpfe seiner Eltern in der Hand.
„Nein!!“
Lauriel stürmte auf die Reiter zu und alles in ihr begann sich in einem tiefen roten Nebel zu verlieren. Die Reiter wandten ihren Blick der Frau zu und gingen im gleichen Augenblick in Flammen auf. „Nabu komm!“
Sie wollte das Kind an sich reißen, aber Nabu stand wie zur Salzsäule erstarrt und rührte sich nicht. Lauriel folgte dem Blick des Jungen und sah im Sand seine kleine Schwester liegen. Es war erst vier Monate her, dass sie das Kind auf die Welt geholt hatte und jetzt lag sie, wie eine Puppe in zwei Teile gerissen, achtlos im Sand. „Luani..“, flüsterte Nabu tonlos.
Lauriel versuchte, das Bild, das sich ihr darbot, zu begreifen, doch von beiden Seiten nahm sie Bewegungen wahr und hörte den Kampflärm.
„Nabu..“
Sie riss das Kind mit sanfter Gewalt an sich und drückte sein Gesicht an ihre Schulter, damit er nichts mehr sehen konnte.
„Ich bin da. Ich beschütze dich,“ flüsterte sie in sein Ohr, so sanft es ihr möglich war.
Um sie herum entbrannte ein verzweifelter Kampf gegen die schattenhaften Reiter, doch sie weigerte sich, den Jungen aus ihren Armen zu lassen.
Zorn und blinde Wut ließen einen nach dem anderen in Flammen aufgehen und als sich endlich Stille über die Wüste legte, gruben sich ihre Füße in blutgetränkten Sand, während sie die Leichen ihrer Gefährten zählte.
Spät in der Nacht, als die Verwundeten versorgt und die Toten verbrannt waren, klammerte sich Nabu immer noch an sie.
Seine kleinen Hände hatten sich in Stoff und Haare gekrallt und waren vollkommen verkrampft, unfähig, loszulassen. Das Gesicht des Kindes war zu einer Maske aus Angst und Schmerz erstarrt.
„Was geschieht nun mit ihm?“
Mahinjael, der Stammesführer hatte auf den Jungen gedeutet und Lauriel fragend angesehen.
Lauriel hatte nicht einen Augenblick nachdenken müssen, ehe sie die Antwort gab.
„Er bleibt bei mir. Ich werde ihn groß ziehen und mich um alles kümmern.“
Mahinjael hatte sie eine Weile lang angesehen. Er wusste, welche Aufgaben in dieser Welt auf sie warteten, da sie lange mit ihm darüber gesprochen hatte. Doch sein Blick änderte nichts an ihrer Entscheidung.
„Nabu wird von diesem Tage an mein Sohn sein und es ist mir egal, was du oder sonst irgendjemand dazu sagt. Ich verlasse eher den Stamm, als ihn nicht bei mir zu haben.“
Der große Mann mit den beinahe schwarzen Augen hatte noch eine Weile zu ihr gesehen, dann hatte er geseufzt.
„Gegen deinen Dickschädel ist so oder so kein Kraut gewachsen.“
Dann war er gegangen und Lauriel hatte Nabu mit in ihr Zelt genommen.
„Nabu.. du.. musst jetzt loslassen. Ich gehe nicht weg. Ich verspreche dir, dass ich ab heute immer für dich da sein werde.“
Trotzdem hatte es Stunden gedauert, bis sie seine kleinen Hände von sich gelöst hatte. Langsam hatte sie mit Wasser und einem Tuch das Blut aus seinem Gesicht und von seinen Armen gewaschen, ihm saubere Kleidung gegeben und schließlich hatte sie sich zu ihm gelegt, ihn zugedeckt und einen tiefen Schlafzauber um ihn gesungen, damit er Ruhe fand.
Sie hingegen hatte in dieser Nacht wach gelegen, denn ihr Herz war erfüllt von einem Hass, den sie vorher so noch nie empfunden hatte.
Wer immer diese Reiter geschickt hatte, würde ihre Rache spüren. Dieses Versprechen gab sie sich selbst.
Lauriel blinzelte in das Feuer, das vor ihr brannte.
Nabu hatte lange bei ihr gelebt und je älter er wurde, desto schwieriger war es geworden. Sie hatte sein Talent im Umgang mit der Musik sehr früh erkannt und gefördert, doch bis heute war sie sich nicht sicher, ob sie ihn deswegen zu ihrem Schüler und Legendenweber gemacht hatte, oder weil sie den Gedanken nicht ertrug, dass er ein sterbliches Leben führte und sie ihn irgendwann zu Grabe tragen musste.
Nabu hingegen war für die Unsterblichkeit seiner Seele nicht gerade dankbar gewesen und obwohl sie eine lange Zeit gemeinsam in der Wüste lebten, so kam doch der Tag, an dem er ihr und dem Weg des Roten Drachen den Rücken kehrte.
Es war das erste Mal gewesen, dass sie den Schmerz eines gebrochenen Herzens fühlte, als Nabu, ihr Ziehsohn, nach einem Streit seine Sachen packte und sie verließ und bis heute klaffte diese Wunde in ihr, obgleich sie sich ab und an wiedergesehen hatten.
„Shadia.. du..“, Alkanas strich sanft über ihre Wange.
Wieder waren ihre Tränen geflossen, ohne, dass sie es bemerkt hatte.
„Verzeih. Es.. es ist so eine schöne und .. besondere Nacht,“ flüsterte sie und hauchte einen Kuss auf seine Fingerspitzen.
„Ja, das ist wahr. Doch glaub mir, auch im Sturmwald sind die Nächte voller Zauber.“ Er sah sie an und lächelte.
„Komm mit mir zurück zum Sturmwald. Ich zeige dir alles, die Vielfalt des Grünen Drachen und den Zauber der Natur.“
Sein Blick funkelte wie der eines kleinen Jungen, der voller Begeisterung ein Geschenk erwartet.
Ihr Blick hingegen war tief, dunkel und schwer.
‚Ich war bereits dort‘, dachte sie. ‚Ich kenne den Sturmwald, wo die Bäume höher sind, als man es sich vorstellen kann, wo der Wind Geschichten in die Blätter flüstert und der Nebel Kreaturen verbirgt, die man nirgends sonst auf der Welt findet. Ich war dort, lange ehe du geboren wurdest, Alkanas, und ich werde dort sein, wenn du längst nicht mehr bist und dein Name nur noch ein Klang in alten Legenden. Würde ich dich dorthin begleiten, wäre es mein Tod, denn ich bin dein Feind und
tausend Klingen fänden mein Herz, noch ehe du begriffen hast, wer ich eigentlich bin.‘ Wie gerne hätte sie ihm all dies einfach gesagt.
Doch sie schwieg und suchte nach Worten, die keine Lüge waren, um ihm zu antworten.
Ihre Gefühle brannten in ihr und sie war nicht in der Lage, sie irgendwie zu beruhigen.
Sie hob den Blick zu den Sternen und für einen kurzen, kaum wahrnehmbaren Moment kam ihr der Gedanke, dass all dies Schicksal war – ein Schicksal, das ihnen beiden nichts als Leid brachte und dem sie nicht mehr entkommen konnten.
Für einen Moment erinnerte sie sich an ein Gespräch mit jenem Mann, der ihr vor langer Zeit das Harfe Spielen beibrachte.
„Wisse immer eines, mein Kind. Nichts – rein gar nichts auf dieser Welt geschieht ohne Grund. Wenn das Schicksal der Menschen es erfordert, dass ein Sturm ihre Welt bewegt, wird irgendwo in der Welt ein Schmetterling mit den Flügeln schlagen, um an anderer Stelle und zu anderer Zeit damit einen Sturm zu entfesseln.“
Sie ließ die Worte in ihrer Erinnerung vorbeiziehen, schloss die Augen und flüsterte kaum hörbar: „Ich bin der Schmetterling, oder nicht?“ Alkanas sah verwirrt zu ihr.
„Was hast du gesagt?“
Sie schluckte erschrocken, dann löste sie sich von ihm, nur um vor ihn zu rutschen und seine Hände in ihre zu nehmen.
„Ich kann nicht mit dir in den Stumwald gehen, Alkanas.“
Sie zögerte eine Weile, ehe sie fortfuhr und beobachtete, wie seine Züge auf ihre Worte reagierten. „Das bedeutet nicht, dass ich es nicht will – aber ich kann es nicht. Ich kann dir aber auch nicht sagen, warum das so ist.“
Sie streichelte sanft mit den Fingerspitzen über seine Handrücken.
„Nein, das ist nicht ganz wahr. Ich kann es dir sehr wohl sagen, aber in dem Moment, in dem ich es dir sage, wird das, was hier ist.. das… was WIR hier sind.. es wird enden.“
Tief drang sie in seinen Blick um ihm die Tragweite ihrer Worte bewusst zu machen und sie konnte seinen Herzschlag spüren, der rasch und widerspenstig die Worte fortwischen wollte.
„Es ist deine Entscheidung“, fuhr sie leise fort.
„Glaub mir, Alkanas, der Tag wird früh genug kommen, an dem du für mich nichts anderes mehr fühlen wirst, als Hass.“
Alkanas sah sie an, sah in die tiefen dunklen Augen der Frau, die so viel in ihm bewegen konnte und versuchte, zu verstehen, was sie da redete. Warum glaubte sie so etwas? Was verbarg sie vor ihm und warum war sie nicht in der Lage, ihm zu vertrauen und daran zu glauben, dass er für sie niemals ein Gefühl wie Hass empfinden könnte? „Warum, Shadia? Warum sollte das so sein?“
Liebevoll strich er einige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht und erschrak beinahe, als er sah, was für eine unermesslich tiefe Trauer seine Worte in ihrem Blick auslösten.
Er schloss für einen kurzen Moment die Augen und entzog sich ihrem Griff, jedoch nur, um den Stock mit den Kaninchen, die sie nicht angerührt hatten, beiseite zu stellen, seine Felle zurecht zu rücken und sich hinzulegen.
Mit sanftem Nachdruck zog er sie zu sich, schloss sie in die Arme und flüsterte mit warmer, weicher Stimme:
„Ich würde dir so gerne die Bäume des Sturmwaldes zeigen und wie die Sterne durch ihre Blätter blitzen, aber Shadia – nicht zu jedem Preis. Und wenn dies hier dafür enden müsste, dann will ich es nicht.“
Er küsste ihr Haar, ihre Stirn und sah sie an.
„Aber irgendwann wird der Tag kommen, an dem ich zu meinen Jägern zurückkehren muss, Shadia. Bis dahin, diese Hoffnung gebe ich nicht auf, werden wir einen Weg gefunden haben, der verhindert, dass das hier“ und nun küsste er sanft ihren Hals „dass das hier jemals endet.“
Sie schluckte und fühlte die Gänsehaut, die sich auf ihr ausbreitete. Und sie schwieg, denn es gab nichts, was sie dazu hätte sagen können.
„Eine Frage habe ich aber noch, Shadia.“
Jeder Muskel in ihr spannte sich an, wartend auf das, was jetzt noch käme.
Er hingegen lächelte sanft.
„Kennst du noch mehr Geschichten über die Sterne?“
Langsam, ganz langsam entspannte sie sich und näher noch zog er sie an sich.
„Natürlich, flüsterte sie.“
„Dann“, jetzt schmunzelte er „erzählst du mir eine?“ Sie sah in das tiefe Blau seiner Augen und nickte.
„Natürlich.“
5 - Im Spiegel des Zorns
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- Written by: Super User
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