Schlaflos
Nachtschichten, Vampire, Mystery
Die folgenden zwei Stunden verbrachten wir damit, durch die Gänge des Krankenhauses zu laufen und Sarah, die sich mir im Laufschritt vorauseilend, über die Schulter hinweg vorstellte, zeigte mir, wo die Umkleiden waren, wo es frische Wäsche gab, die Radiologie, Die Apotheke, das Labor, die Kantine, die Intensivstation, die Notaufnahme und in welchen Räumen ich darüber hinaus Verbandsmaterial, Probenröhrchen, Infusionsbesteck und alles andere fand, was ich brauchen würde, um hier die Arbeit zu machen, die man scheinbar von mir erwartete.
Nachdem Sarah ihre Führung durch das Krankenhaus abgeschlossen hatte, sah sie erschrocken auf die Uhr und trieb mich zur Eile an. Noch im Laufen knotete ich die einfache Stoffhose zu und schlüpfte in den Kittel, den ich mir aus dem entsprechenden Regal gezogen hatte. Ich war mir sicher, dass ich den Raum, in dem ich meine Tasche und meine Kleidung in einem Spint abgeschlossen hatte, niemals wiederfinden würde, doch darüber konnte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Ich hinter Sarah her, hastete mit ihr von Zimmer zu Zimmer um Blut abzunehmen und sah zu, wie sie stillschweigend Namen und Zahlen von einer zerknitterten Liste strich, wenn wir ein Zimmer geschafft hatten.
Kaum dass wir die Tasche mit dem Blut in das dafür vorgesehene Fach gelegt hatten, schubste mich Sarah auch schon weiter. Verbände mussten gewechselt werden und sie zerrte alle möglichen Materialien aus Regalen im Lager um sie in ihre Kitteltaschen zu stopfen oder auf meinen ausgestreckten Armen zu stapeln. So begann die nächste Runde durch die Zimmer und wir hakten die Namen der nächsten Liste ab.
Dankbar dachte ich an die Zeit meiner bisherigen Ausbildung zurück und daran, wie ich lernte, so etwas wie einen Vacuum-Verband zu wechseln, denn heute, mitten in diesem unerwarteten Chaos, wäre keine Zeit gewesen, es mir zu erklären.
Als wir mit allem fertig waren, ließen wir uns auf die alten Schreibtischstühle im Arztzimmer fallen und sahen uns einen Moment lang schweigend an.
„Wo sind eigentlich die Ärzte?“, unterbrach ich die Stille schließlich.
„Die sind schon längst im OP. Der Chef setzt die OPs hier sehr früh an, manche beginnen schon um vier in der Früh.“
Sarah fuhr sich durch die Haare und rieb sich anschließend die Augen.
„Und die machen das einfach so mit?“
Sarah lachte.
„Naja – so weit ich es mitbekommen habe, werden die Ärzte hier recht gut bezahlt, was ich mir bis heute nicht wirklich erklären kann und der Chef macht hier auch ehrlicherweise spannende OPs, das wirst du selber zu sehen kriegen.“
Ich schüttelte energisch den Kopf.
„Nee, ich bin fertig mit der Chirurgie – damit habe ich abgeschlossen.“
Sarah lachte erneut.
„Lia glaub mir – du wirst das tun, was der Chef will, egal ob drüben oder hier und das ganz einfach nur, weil du dich nicht mit ihm anlegen willst. Das war bei allen vor dir so und das wird bei allen nach dir so sein.“
Ich zog die Brauen zusammen. Auch wenn ich den Chefarzt der beiden Abteilungen noch nicht kennen gelernt hatte, war er mir doch schon derartig unsympathisch, dass ein Teil von mir sich am liebsten ins Auto gesetzt hätte, um nach Hause zu fahren.
„Wie sind denn die anderen so?“
Sarah kaute eine Weile auf ihrer Lippe herum.
„Also hier in der Abteilung sind drei Oberärzte. Ganz oben und direkt unterm Chef ist die Nellan. Sie ist wie eine Stabheuschrecke, die regelmäßig Bücher verspeist. Sie weiß wirklich viel, tut so, als wäre sie total nett, aber wehe, du funktionierst mal nicht wie gewünscht, dann kann sie richtig giftig werden und verkauft dir das dann noch als nette Geste. Dann ist da der Biegert – der ist eigentlich nie da und wenn er mal da ist, versucht er witzig zu sein, ohne zu merken, dass keiner über seine Scherze lacht. Der dritte ist der Priege, der findet sich extrem gut und er hasst die Nellan, weil er gerne ihre Position hätte. Die beiden streiten sich eigentlich ständig und machen sich gegenseitig schlecht.“
„Das scheinen alles keine rumänischen Namen zu sein?“, unterbrach ich sie.
„Ja – der Chef holt sich viele seiner Mitarbeiter aus dem Ausland, nicht wenige davon aus Deutschland, keine Ahnung, warum – du kannst ihn ja mal fragen“, sie grinste breit. „Das Gute ist aber, dass du wenig Probleme mit der Sprache haben wirst. Die Assistenzärzte hier wechseln übrigens recht häufig, habe ich gehört. In der Zeit, in der ich jetzt hier war, gab es zwei Wechsel und das soll wohl immer wieder so sein. Scheinbar kündigen die meisten unerwartet und verabschieden sich nicht mal und dann kommt schon wieder jemand neues. Du wirst es ja sehen. Naja.. ehrlicherweise wundert es mich auch nicht.“
Ich nickte langsam und versuchte mir ein Bild von diesem Team zu machen, was mir aber nicht so recht gelingen wollte und schließlich entschied ich mich, dass es mir nicht so wichtig sein sollte, da ich ja eigentlich in der Stiftung arbeiten wollte und nicht hier.
Ich hob also die Schultern und nickte nur.
„Zeigst du mir noch, wo ich die Laborwerte finde und die Konsile?“
Sarah nickte und kam auf meine Seite des Schreibtischs.
Viel zu schnell ging sie mit mir alle wichtigen Funktionen des Systems durch und was ich wo finden konnte. Danach zeigte sie mir noch die Kurven und wie sie hier geführt wurden. Zum Schluss zog sie mich dann am Ärmel mit ins Schwesternzimmer, wo sie mich kurz dem übrigen Team vorstellte.
Kurz darauf standen wir an der Eingangstür zur Station und sie hatte sich den Kittel über die Schulter geworfen.
„So meine Liebe, das war es dann für mich. Viel Glück, denn das wirst du brauchen“ und mit diesen Worten wandte sie sich ab, um zur Treppe zu gehen.
„Halt warte mal,“ rief ich und sie blieb stehen.
„Was denn noch?“
Ich schluckte und hob etwas hilflos die Hände.
„An wen kann ich mich denn wenden, wenn etwas ist? Ich .. kenne keinen von den Ärzten und ..“, ich schluckte wieder und kurz schien so etwas wie Mitgefühl über Sarahs Züge zu huschen. Rasch jedoch hatte sie dieses Gefühl offensichtlich abgeschüttelt, denn sie machte eine abwertende Handbewegung und lachte.
„Ach komm, das haben andere vor dir geschafft, du schaffst das auch. Alle wichtigen Nummern sind im Telefon einprogrammiert und du kannst zur Not die Pflege fragen, ok?“
Ich sah sie an und nickte langsam.
„Danke“; murmelte ich.
Da öffnete sich plötzlich die Glastür zum Treppenhaus und ein Mann im weißen Kittel mit schwarzen, wellig zurückgegelten Haaren hastete, gefolgt von zwei Polizisten, in Richtung der gegenüberliegenden Station.
„Oh-oh“, kommentierte Sarah und sah der kleinen Gruppe hinterher.
„Was ist denn?“
„Ich weiß nicht, aber es hieß im Flurfunk, dass in den letzten Wochen drei Menschen verschwunden sind, die kurz vorher hier behandelt wurden. Ich dachte, das wäre nur das übliche Geschwätz abergläubischer Trottel, aber jetzt ist die Polizei hier.“
Sie sah noch eine Weile auf die mittlerweile wieder geschlossene Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, dann hob sie die Schultern.
„Naja – ich werde es nicht erfahren und ehrlicherweise ist es mir auch egal. Das war übrigens der Priege – Dr. Priege natürlich und wenn er dich hübsch genug findet, darfst du ihn vielleicht demnächst Mike nennen. Viel Glück!“
Sarah war schon fast durch die Tür zum Treppenhaus, da sah sie noch einmal über die Schulter zurück.
„An deiner Stelle würde ich jetzt so schnell wie möglich rüberfahren. Der Chef wird dich sehen wollen und er hasst es, zu warten. Kleiner Tipp – halt dich mit allem zurück. Er hasst es nämlich auch, wenn jemand eine eigene Meinung hat, oder wenn jemand redet .. oder atmet. Und jetzt – mach’s gut Lia.“
Und mit diesen Worten war sie fort und die Treppe hinunter.
Ich hastete zurück in das Arztzimmer und sah aus dem Fenster, wartete, bis Sarah über den Parkplatz gehetzt war um in einem kleinen, blauen Auto zu verschwinden und wegzufahren.
Ich war allein.
Panisch sah ich plötzlich auf meine Uhr und erinnerte mich an ihre Ermahnung, dass ich zurück in die Stiftung fahren musste.
Ich rannte in Richtung des Treppenhauses und prallte fast gegen einen der beiden Polizisten, denen wir eben begegnet waren. Dieser bedachte mich mit ein paar nicht sehr freundlich klingenden rumänischen Worten und schüttelte verständnislos den Kopf, während ich, entschuldigend lächelnd, an ihm vorbei manövrierte und die Treppe hinuntereilte.
Das letzte, worauf ich jetzt Lust hatte, war ein Gespräch mit der Polizei.
In meiner Eile verlor ich jedoch schnell die Orientierung und fand mich irgendwann in einem Kellergang wieder, der von unangenehmem Neonlicht ausgeleuchtet war, das hin und wieder flackerte.
Ich sah mich um und versuchte mich daran zu erinnern, in welcher Richtung der Umkleideraum mit den Spinden gewesen war und in dem ich meine Sachen zurückgelassen hatte.
In unregelmäßigen Abständen fanden sich im Mauerwerk schwere Metalltüren, von denen keine beschriftet war.
Ich drückte die erste Klinke herunter und suchte einen Lichtschalter. Nachdem die Neonröhre widerwillig ihren Dienst tat, sah ich aufgetürmte Kartons mit Papierstapeln darin und in Bündeln zusammengebundene Akten.
Rasch schloss ich die Tür wieder und ging den Gang weiter hinunter.
Als ich die nächste Tür öffnete, blickte ich in einen Raum, der von oben bis unten mit Technik vollgestopft war. Überall piepte und blinkte es und das Neonlicht schien kaltweiß auf zahllose Apparaturen, die auf langen Tischreihen aufgebaut waren.
Der Raum erinnerte mich an die Forschungs-Labore in der Universität, doch noch ehe ich wirklich realisieren konnte, was in diesem Raum geschah, baute sich eine hochgewachsene, schmale Frau im weißen Kittel vor mir auf, deren Gesichtszüge streng und verhärmt wirkten und deren braunes Haar achtlos in einen Zopf gewunden war.
Sie musterte mich kurz von oben bis unten, dann blaffte sie mich an:
„Wer sind sie? Sie haben hier nichts zu suchen!“
Ich war kurz verwundert, dass sie mich auf Deutsch ansprach und machte automatisch einen Schritt zurück.
„Entschuldigung... ich habe heute hier angefangen... und... ich suche die Umkleide“, stammelte ich.
Umgehend veränderten sich ihre Gesichtszüge und wurden etwas freundlicher während sie mich gleichzeitig vor die Tür drängte.
„Ah, ich verstehe. Dann sind sie vermutlich Frau Norish – die neue Kollegin aus Deutschland?“
Ich glotzte verwirrt.
„Ich bin Dr. Nellan. Wir lernen uns sicher noch besser kennen und wenn sie sich für Forschung interessieren, kann ich sicherlich auch einmal eine Führung durch die Labore organisieren, aber wir haben hier recht strenge Regeln und die müssen wir natürlich erst einmal befolgen, ja?“
Die Art, in der sie die Worte säuselte und mich auf eine Art und Weise vertrauensvoll ansah, die ich ihr einfach nicht abkaufte, ließen mir ein unangenehmes Kribbeln im Nacken aufsteigen.
„Ja… natürlich, ich wusste ja nicht...“
„Das ist gar kein Problem. Kommen sie einfach mit, ich zeige ihnen die Umkleide.“
Hastig eilte sie los und ich folgte ihr schweigend durch die Flure, während sie weitersprach.
„Sie sind ja quasi eine tägliche Leihgabe der Stiftung. Das ist sehr freundlich vom Professor, dass er diese Regelung getroffen hat und sie werden davon profitieren. Statt einem Fachgebiet, lernen sie gleich zwei kennen und haben die Möglichkeit, viel für ihre Zukunft zu mitzunehmen. Interessieren sie sich für Chirurgie?“
Ich stolperte fast über meine eigenen Füße bei dieser Frage.
Wehmütig erinnerte ich mich an die Stunden, die ich bereits im OP verbracht hatte, wo ich mich auf Grund meines Studentenjobs, bei dem ich vor allem für Blutentnahmen und nächtliche Assistenz gebraucht wurde, mit allem bereits vertraut fühlte.
Ich erinnerte mich aber auch an meine letzte OP, in der ich in zweiter Assistenz mit am Tisch gestanden hatte, direkt neben dem Mann, mit dem ich die ganze Nacht darüber gestritten hatte, dass er mir fremd gegangen war. Es war die längste OP meines Lebens gewesen und ich wäre am liebsten davongelaufen. Weil das aber nicht möglich war, hatte ich mir Minute für Minute geschworen, dass ich nie wieder in einem OP stehen wollte.
„Ich ehm... interessiere mich eher für Psy..“
„Ahh – da sind wir ja,“ unterbrach sie meinen Versuch, sie anzulügen und blieb vor einer Tür stehen, die genauso aussah, wie alle anderen Türen hier unten.
Sie drückte die Tür auf und schaltete das Licht an, so dass man die Reihen von Spinden sehen konnte, die in diesem Raum aufgebaut waren.
„Die Zahlenschlösser hat ihnen ja vermutlich jemand gezeigt. Das Wäschelager ist zwei Türen weiter links.“
Sie deutete auf das Ende des Ganges. „Da vorne geht es zum Treppenhaus, wo sie wieder ins Foyer kommen. Da gehen sie auf die gegenüberliegende Seite, da ist das zweite Treppenhaus und so kommen sie wieder auf die Station.“
Sie lächelte mich milde an.
„Ich weiß, das ist am Anfang hier etwas verwirrend, aber sie gewöhnen sich dran.“
Ein kurzer Blick auf ihre Uhr ließ eine Falte tief zwischen ihren Augenbrauen entstehen.
„Leider habe ich keine Zeit, ihnen noch mehr zu zeigen. Viel Erfolg und herzlich willkommen. Wir sehen uns ja sicherlich bald wieder.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand mit dem typischen Gang jener Leute, die wussten, dass viele Menschen zu ihnen aufsahen.
Ich schloss die Augen und ließ mich gegen die Spinde sinken. Was um alles in der Welt tat ich hier?
Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als würde meine Haut prickeln und in meinen Ohren rauschte es. Alles fühlte sich unwirklich an. Ich ließ mich auf den ziegelroten Kachelboden sinken und schlang die Arme um meine Knie.
Die Entfernung zu meinem zu Hause und jedem Menschen, den ich kannte, drückte wie ein Stein auf meine Brust und alles um mich herum wirkte unwirklich und falsch.
Atmen.
Ich schloss die Augen und erinnerte mich an die vielen Male, in denen mein Therapeut genau das mit mir geübt hatte.
Konzentriert auf die Bewegungen meines Zwerchfells, ließ ich die Luft in meine Lungen ein- und wieder ausströmen und als das prickelnde Gefühl auf der Haut langsam nachließ, verharrte ich noch eine Weile so, konzentriert auf jeden Atemzug.
Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass die Realität um mich herum wieder zu mir gehörte und rappelte mich auf, klopfte mir den Staub von der Jeans und fuhr innerlich zusammen, als ich mein Handy herauszog und auf die Uhr sah.
Schnell suchte ich nach dem Spind, den Sarah mir zugewiesen hatte und schnappte meine Tasche. Es war keine Zeit mehr, um mich umzuziehen und so hastete ich in der Klinikkleidung zu meinem Auto und fuhr zurück zur Stiftung.
Es standen mittlerweile mehrere Fahrzeuge auf dem Parkplatz und als ich dieses Mal klingelte, wurde die Tür schon beim ersten Versuch geöffnet.
„Mensch Mädchen, wo warst du denn so lange?“
„Ich ehm… musste noch eingewiesen wer…“
Er unterbrach mich mit einer wegwischenden Handbewegung.
„Interessiert jetzt niemanden. Der Chef wartet und das ist nicht gut. Also schnell jetzt.“
Diesmal legte er mir seine Hand auf die Schulter und schob mich vor sich her durch die große Eingangshalle, die mit dickem Teppich ausgelegt war und wo eine große, gewundene Treppe in den nächsten Stock führte. An den Wänden hingen alte Gemälde mit Bildern von Menschen und Landschaften und eigentlich sah nichts so aus, wie man es von einem Krankenhaus erwartete.
Ich ließ mich die Treppe hinauf schieben und weiter auf die linke Seite der Halle. Von dort aus führte ein langer Gang um mehrere Ecken und mündete, nach diversen verschlossenen Türen, an denen wir vorbeikamen, in eine große, hölzerne Flügeltür.
Dahinter wand sich eine lange Treppe einen der Türme hinauf, die ich von außen gesehen hatte.
„Hättest dich ruhig umziehen können. Der Chef mag es gar nicht, wenn man hier in den Sachen von drüben aufkreuzt. Ich zeig dir später, wo du hier was findest.“
„Aber ich…“, wollte ich protestieren, doch Ted unterbrach mich erneut.
„Hilft jetzt sowieso nicht, Mädchen. Klären wir alles später.“
Mit diesen Worten bugsierte er mich in einen Vorraum, in dem auf jeder Seite zwei alte, lederbezogene Sessel standen und je ein kleiner, kunstvoll geschnitzter Tisch mit Zeitungen darauf.
An der nächsten Tür fand sich ein goldenes, graviertes Schild „Prof. Dr. V. M. Cetulescu“.
Ted bedeutete mir, stehen zu bleiben und zu warten. Leise klopfte er an die Tür und betrat auf ein dumpfes „Herein“ ohne mich den Raum.
Bei halb offener Tür hörte ich ihn sagen:
„Die neue PJ-lerin aus Deutschland ist hier, möchten sie sie sehen?
Die Antwort kam ruhig und schneidend zugleich:
„Sehen wollte ich sie vor einer halben Stunde. Aber ja, schicken sie sie rein.“
Ted kam wieder raus und fuhr sich mit der Hand schief grinsend durch sein kurzes, aschblondes Haar.
„Na dann viel Erfolg, Mädchen, ich warte unten auf dich und zeig dir dann nachher dein Zimmer.“
Mit diesen Worten verschwand er.
Für einen kurzen Moment wollte ich anfangen, laut zu schreien, als mir bewusstwurde, dass ich erneut in einem völlig fremden Gebäude allein gelassen wurde und man erwartete, dass ich mich zurechtfinden würde. Doch von der halb geöffneten Tür zum Büro des Chefarztes ging eine seltsame Mischung aus Angst und Faszination aus und ich fühlte, wie sich über meinen ganzen Körper hinweg Gänsehaut ausbreitete.
Ich atmete tief durch und trat durch die Tür.
An den Wänden des Turmzimmers kletterten hohe Regale hinauf, in denen zahllose Bücher standen, von denen einige sehr alt wirkten. Zwischen den Regalen gab es sehr schmale Fensterschachte durch dicke Mauern, so dass kaum Licht durch sie einfallen konnte. Stattdessen tauchte ein Kronleuchter, der von der hohen Decke hing, den Raum in sanftes, beinahe dämmriges Licht. Auch hier fanden sich zwei der schweren Ledersessel, direkt vor einem riesigen Schreibtisch aus dunklem Holz, auf dem beinahe alles antik wirkte mit Ausnahme des Laptops, an dem der Professor offensichtlich gerade gearbeitet hatte.
Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte, doch sicher etwas anderes, als ich nun sah.
Vor mir saß jener Mann, mit dem ich am frühen Morgen auf dem dunklen Parkplatz zusammengestoßen war.
Er hatte die Hände vor sich auf dem Schreibtisch gefaltet und sah mich an. Im Licht des eher schwach beleuchteten Raumes wirkten seine Augen dunkler als heute Morgen. Er wirkte selbst sitzend sehr groß und die Schatten, die das Licht auf sein Gesicht malte, ließen seine Züge noch etwas härter wirken.
Ich runzelte die Stirn, weil ich einen älteren Mann mit grauem Haar erwartet hatte, doch mein Gegenüber sah deutlich jünger aus, schwer einschätzbar.
„Die junge Dame vom Parkplatz also.“
Der Satz zerschnitt die Luft im Raum und ließ mich schlucken.
„Guten Morgen, Herr Professor. Mein Name ist…“
„Ich kenne ihren Namen. Caecilia Norish. Sie haben mich warten lassen.“
„Das tut mir sehr leid. Ich hatte Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden und…“, stammelte ich und wurde erneut unterbrochen.
„Schon gut, das ist nicht weiter wichtig.“
Er löste die Hände voneinander und blätterte eine Akte durch, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
„Nun – sie haben in Deutschland studiert und all ihre Praktika waren bisher chirurgisch angelegt. Wie kam es zu dem offenkundigen Sinneswandel?“
Er sah mir in die Augen und ich hatte das Gefühl, dass er in der Lage sein musste, jeden noch so kleinen Versuch einer Lüge bereits im Ansatz zu erkennen.
All meine gut durchdachten Antworten, die ich für eine solche Frage vorbereitet hatte, lösten sich auf und verloren ihren Sinn.
„Nun es… gab… private Probleme. Ich musste mich umorientieren.“
Professor Cretulescu hob eine Augenbraue und seine geschwungenen Lippen wurden zu einem schmalen Strich.
„Die Psychiatrie ist ein sehr weitgefächertes Fachgebiet, häufig unterschätzt, Frau Norish. Warum denken sie, dass sie gerade in diesem Bereich ihre Orientierung wiederfinden?“
Ich schluckte erneut.
Was sollte ich denn antworten? Sollte ich ihm sagen, dass mir Psychiatrie in den Sinn kam, weil Steve Psychiatrie hasste und es somit gefühlt am weitesten von ihm weg war? Sollte ich ihm erzählen, dass ich als Teenager selbst einmal in einer psychiatrischen Klinik und viele Jahre danach noch in einer ambulanten Therapie war und deswegen keine Berührungsängste zu diesem Gebiet hatte? Nichts davon erschien mir sinnvoll. Ich rang nach Worten.
„Ich glaube… dass man im Gebiet der Psychiatrie… nicht nur Krankheiten behandeln, sondern Leben verändern kann.“
„Zum Guten wie zum Schlechten“, antwortete er, die blauen Augen unverändert tief in meinen Blick gebohrt, „doch das beantwortet meine Frage nicht?“
Ich senkte den Blick und starrte auf den dicken, roten Teppich auf dem ich stand, atmete einige Male ein und wieder aus und angelte verzweifelt in meinen Gedanken nach einer sinnvollen Antwort.
Als ich schließlich wieder aufsah, traf mich sein Blick unverändert schonungslos und für einen Moment glaubte ich zu wissen, wie es sein musste, mitten im eiskalten Meer zu ertrinken. Ich glaubte für eine Sekunde, nicht mehr atmen zu können, doch dann biss ich mir auf die Lippen und versuchte wütend, dieses Gefühl abzuschütteln. Als ich antwortete, klang meine Stimme hingegen eher brüchig:
„Ich glaube, dass ich gut mit Menschen arbeiten kann, Herr Professor. Ich finde einen schnellen Zugang zu ihnen.“
Dies entsprach der Wahrheit und war in meinen chirurgischen Praktika eher eine Eigenschaft gewesen, die mir im Weg gestanden hatte und von anderen belächelt wurde.
Das Gesicht des Professors wirkte glatt und undurchdringlich, während sein Blick mich weiter gefangen hielt. Dann schloss er die Akte wieder und faltete die Hände darüber.
„Nun gut. Überraschen sie mich.“
Er nahm einen Zettel aus einem kleinen Behälter aus schwarzem Marmor und griff nach einem Füllfederhalter, der neben der Akte auf seinem Schreibtisch lag, um damit ein paar Worte niederzuschreiben. Dann hielt er mir den Zettel hin.
„Dies sind drei Patienten. Morgen in der Visite werden sie sie mir vorstellen und mir ihre Meinung dazu kundtun, wie sie die weitere Behandlung planen würden.“
Mein Blick wanderte von seinem Gesicht zu seiner Hand mit dem Zettel und wieder zurück.
In diesem Moment huschte ein Lächeln über seine Lippen, das mir mehr Angst einjagte, als ich je zuvor im Laufe meines Studiums gegenüber einem Menschen empfunden hatte.
Rasch nahm ich den Zettel, wobei ich kurz seine kühle Hand berührte und beinahe zurückgeschreckt wäre.
„Selbstverständlich.“
„Lassen sie sich die notwendigen Akten von Ted aushändigen und sehen sie zu, dass nichts davon verloren geht. Guten Tag, Caecilia.“
Mit diesen Worten wandte er sich wieder seinem Laptop zu, als wäre ich gar nicht mehr im Raum.
Warum nannte er mich, so wie Ted, nun beim Vornamen? Und wie stellte er sich vor, dass ich diese Aufgabe lösen sollte? Ich hatte gerade erst mit der Psychiatrie begonnen und fachlich gesehen nicht sehr viel Hintergrundwissen.
Ich fühlte erneut das Gefühl des Prickelns auf meiner Haut, wie vorhin in der Umkleide und eilig wandte ich mich wieder seiner Tür zu.
„Vielen Dank und einen schönen Tag noch“, murmelte ich, dann schloss ich die schwere Tür hinter mir und hastete einige der Stufen hinunter.
Schließlich blieb ich stehen, ließ mich auf die Treppe sinken und presste meine Handballen gegen die Stirn.
Wie sollte das bloß alles funktionieren?
Wütend wischte ich mir die aufsteigenden Tränen aus den Augen und kaute auf meiner Unterlippe. Ich hätte alles für eine Zigarette gegeben in diesem Moment.
„Na komm Mädchen, das wird schon“, hörte ich eine mittlerweile bekannte Stimme von irgendwo unter mir.
Ted sah die Wendeltreppe hinauf und grinste schief.
„So geht es den meisten am Anfang. Jetzt atme durch und komm. Ich zeig dir dein Zimmer und dann kommst du erstmal an. Ich hab dir ein Frühstück in die Küche bringen lassen, aber gewöhn dich da nicht dran. Normalerweise kümmert ihr euch selbst drum.“
Ich war so dankbar, dass er doch auf mich gewartet hatte, dass ich ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre.
Nach einem tiefen Atemzug stand ich auf und lief ihm entgegen.
Kapitel 1 – die Ankunft
„Bei nächster Gelegenheit rechts abbiegen.“
Die blecherne Frauenstimme des Navis surrte durch den Wagen und wurde dabei von dem Gedudel aus dem Radio untermalt.
Ich folgte der dunklen Straße seit einer gefühlten Ewigkeit in langgezogenen Windungen durch Wälder und um Berge herum. Wo die Abendsonne vor einigen Stunden noch die vom Herbst bunt gefärbten Bäume, Felsen und Wiesen in warme Farben gehüllt hatte, sah ich längst nur noch Schatten vorbeihuschen, die sich rechts und links von der Fahrbahn aufrichteten und mit langen Armen in den dunklen Himmel zu ragen schienen. Von Zeit zu Zeit wichen schmalere Straßen von der Hauptstraße ab und verschwanden in vollkommener Dunkelheit. Ich war froh und auch erleichtert, als ich endlich die blassen Lichter einer kleinen Stadt erkannte auf die ich zufuhr. Endlich sah ich wieder Häuser, und ließ sie auch gleich wieder hinter mir, denn mein Ziel schien ein Stück weit hinter dem Ort zu liegen, der den klangvollen Namen „Zarnesti“ trug. Ich folgte der Route auf dem kleinen, leuchtenden Monitor und fuhr schließlich auf einen Parkplatz vor einem hell angestrahlten, schmutzig-gelben Betonklotz mit der Aufschrift „Spitalul ‚Dr. Caius Tiberiu Spârchez‘“.
„Na großartig“, seufzte ich leise vor mich hin, als ich sah, dass nur noch eine Parklücke frei war und mir diese selbst für meinen kleinen Golf zu winzig vorkam.Als ich den Motor schließlich ausschaltete und die Handbremse anzog, sah ich zu dem Gebäude und fragte mich, wie schon so viele Male in den vergangenen Stunden, was ich mir eigentlich dabei gedacht hatte, ein Drittel meines praktischen Jahres irgendwo in einer kleinen Stadt in Rumänien zu machen.
Ich kannte die Antwort.
Eigentlich war alles anders geplant. Ich wollte das ganze praktische Jahr, das man am Ende seines Medizin-Studiums absolvieren musste, in der Universitäts-Klinik verbringen, die ich mein ganzes Studium hindurch schon kannte. Ich hatte diesen Plan bereits im ersten Semester gefasst, da ich überzeugt war, auf diese Weise bessere Chancen zu haben, dort im Anschluss an mein Studium auch eine Assistenzarztstelle zu ergattern.
Dann hatte Steven mich betrogen und wir hatten uns getrennt.
Er hatte geschworen, dass es niemals wieder passieren würde. Nächtelang hatten wir gestritten, Wein getrunken und viel zu viele Zigaretten geraucht. Ich schüttelte mich bei der Erinnerung.
Schließlich war die Entscheidung getroffen. Er war bereits im ersten Jahr der Assistenzarzt-Ausbildung. Er wollte Chirurg werden und hatte angefangen zu arbeiten, als ich gerade erst aufstand und er war erst nach Hause gekommen, wenn ich schon lange wieder im Bett lag, um zu schlafen. Er war oft erschöpft und frustriert gewesen, das hatte ich gespürt, aber ich hatte nicht erwartet, dass es so enden würde.
Ich zog zu einer Freundin und hielt es für eine gute Idee, mir Wein und Zigaretten abzugewöhnen, während ich mich auf mein drittes Staatsexamen vorbereitete und war, wie ich vermute, der unausstehlichste Mensch auf der Welt. Und dann las ich von Zarnesti, sehr weit weg und somit, wie mir schien, absolut perfekt.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Auf den Bildern hatte das alles etwas anders ausgesehen, kein hässlicher, gelber Beton, kein Schmutz und kein voller Parkplatz unter Neon-Scheinwerfern.
Ich runzelte die Stirn und griff nach der Mappe auf dem Beifahrersitz.
Unter den zahllosen Zetteln und Dokumenten zog ich einen Lageplan hervor und verglich die Linien darauf mit dem, was vor mir lag.
Dann entdeckte ich, wonach ich suchte. Ganz links war, halb von Sträuchern verdeckt, ein Schild mit der Aufschrift: Judas-Thaddäus-Stiftung, Leitung Prof. Dr. Cretulescu. Darunter zeigte ein Pfeil auf eine Straße, die mir noch dunkler erschien, als die, die mich hierhergeführt hatten.
Ich seufzte und startete den Motor. Langsam folgte ich der schmalen, bald wieder von hohen Tannen gesäumten Straße in die Dunkelheit. Nach einigen Minuten langsamer Fahrt erahnte ich jedoch Licht vor mir und tatsächlich traten die Bäume zurück. Ein Schmiedeeiserner Zaun, hoch wie zwei ausgewachsene Männer und mit kunstvollen Schnörkeln verziert wand sich von der Straße rechts und links in die Nacht und dahinter ging der Weg gerade auf ein Gebäude zu, das so gar nicht in diese Umgebung passen wollte. Angestrahlt von geschickt in Ziersteinen versteckten Lampen hatte es etwas von einem kleinen Schloss, mit kleinen Türmen und Erkerzimmern in mitten eines weitläufigen Parks, soweit es sich im Dunkeln zumindest erahnen ließ. Auch hier endete der Weg auf einem Parkplatz, kleiner als der andere und mit nur wenigen Autos auf in ausladenden Parkbuchten. Die meisten Fenster waren dunkel, nur einige wenige waren mit schwachem Licht erleuchtet. Das entsprach schon eher dem Bild, das man mir geschickt hatte.
Hier waren also die psychisch kranken Sprösslinge wohlhabender Familien untergebracht und hofften, eines Tages wieder nach Hause zurückkehren zu können.
Ich schüttelte den Kopf. Seit dem ersten Tag an der Universität hatte ich gewusst, dass ich Chirurgin werden wollte. Ich hatte darauf hingearbeitet, hatte mir nichts anders vorstellen können und jetzt, nach allem, was passiert war, stand ich mitten in einem fremden Land vor einer Klinik für psychisch Kranke und wusste, dass ich mich weiter von meinen eigentlichen Plänen wohl kaum hätte entfernen können.
Ich kaute eine Weile auf meiner Unterlippe herum, dann sah ich auf mein Handy. Es war 6:45 und ich merkte jede einzelne Stunde der Nacht, die ich auf Autobahnen und Landstraßen verbracht hatte.
„Rufe Jenn an“.
Mein Handy glotzte mich eine Weile reaktionslos an, ehe plötzlich der Bildschirm aufleuchtete und ein Foto von Jenn zeigte, deren leuchtend rote Haare das Bild wie einen Rahmen ausfüllten.
„Hmm..“..
In Nürnberg war es jetzt vermutlich erst 5:45 und das verschlafene Brummen am Ende der Leitung bestätigte meine Vermutung.
„Du wolltest, dass ich mich melde, wenn ich da bin.“
Ich versuchte, nicht genervt oder gereizt zu klingen, was mir schwer fiel nach den knapp 10h Fahrt von Wien aus und den 14h am Tag davor.
„Lia!!“, brüllte mich die Stimme aus dem Handy plötzlich an.
„Eh.. ja. Jetzt bin ich taub.“
Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein Lachen, gefolgt von einem Poltern und einem Fluchen.
„Was machst du denn da?“
Ich starrte auf Jenns sommersprossiges Gesicht, das mir von dem Handy-Bild aus entgegen strahlte.
„Ich .. autsch.. Mist… ahh… verdammte Flasche… warte….“
Ich schaltete das Handy auf Lautsprecher und legte es auf den Beifahrersitzt, so dass ich Geldbeutel, Kopfschmerztabletten und Wasserflasche in meine Tasche packen konnte.
Ich sah mich um und registrierte stirnrunzelnd das Durcheinander von leeren Energy-Drink-Dosen, Schokoladenpapier, Lippenbalsam, CD-Hüllen und einer Brötchentüte. Alles, was ich noch brauchte, wanderte ebenfalls in die Tasche, dann nahm ich das Handy wieder in die Hand.
„Soll ich später anrufen?“
„Nein“, hallte es mir aus Nürnberg entgegen.
„Ok..“
„Ich hab mich nur gestoßen, verdammt.. jetzt erzähl. Wie ist es?“
Ich sah mich um und ließ meinen Blick über das eigentümliche Gebäude schweifen, dann seufzte ich.
„Ich weiß nicht genau. Es sieht.. seltsam aus. Es passt so gar nicht zu dieser Stadt. Dort ist alles irgendwie.. einfach.. und klein.. außer der Natur, die ist.. gigantisch.“
„Ach, das wird sicher großartig, warte mal ab.“
„Jenn, ich weiß nicht. Vielleicht war es doch keine so gute Idee. Ich überlege schon seit der Grenze, ob ich nicht doch lieber an eine große Klinik in Deutschland gehen sollte. Es muss ja nicht DIE Klinik sein“
„Schluss mit dem Unsinn.“
Offensichtlich war Jenn jetzt wach, denn ihre Stimme war klar und überzeugend.
„Wie viele Nächte hast du hier gesessen und geheult, weil alles so schrecklich ist? Du wolltest so weit weg von Steve und der Chirurgie und all deinen Plänen, wie es nur geht – und jetzt bist du genau da, wo du hinwolltest“
„Du hast ja leicht reden.“ Ich murmelte es eher, aber Jenn hatte mich genau verstanden.
„Komm schon. Du wolltest doch mal was anderes sehen und auf andere Gedanken kommen. Geh rein, finde heraus, wie die Leute da ticken und sag mir heute Abend Bescheid. Und mach Fotos!“
„Ja, mache ich“, erwiderte ich und atmete durch. „Dann bis – heute Abend oder so.“
„Pass auf dich auf, Lia.“
Jenns Gesicht verschwand vom Bildschirm und das Handy flog achtlos in meine Tasche. Dann gab ich mir einen Ruck und stieg aus dem Wagen.
Ich schwankte – offensichtlich war mein Kreislauf der Ansicht, noch ein wenig im Auto bleiben zu wollen. Ich hielt mich an der Tür fest und wartete, bis sich die dunklen Flecken, die vor meinen Augen schwirrten, wieder beruhigten.
Der Sonnenaufgang schien noch eine Weile auf sich warten zu lassen und nur das seltsam verschachtelte, bleichweiße Gebäude leuchtete mir matt entgegen.
Ich seufzte und betrachtete mich in der Autoscheibe.
Dunkle Augen aus noch dunkleren Schatten sahen mir entgegen und die blonden, schulterlangen Haare, die eher einem Gestrüpp glichen als einer Frisur, machten das Bild nicht besser. Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und zwang sie in einen einfachen Pferdeschwanz.
Es machte den Eindruck nicht wirklich besser, aber ohne Schlaf, eine heiße Dusche und eine oder zwei Kannen Kaffee würde sich an diesem Zustand auch nichts mehr verbessern lassen.
Ich seufzte ein weiteres mal und zuckte die Schultern. Es waren nur vier Monate, die ich hier verbringen würde und dann, wenn der Frühling kam, konnte ich wieder nach Hause. Jenn hatte recht. Ich hatte mir gewünscht, ganz weit weg von meinen ursprünglichen Plänen und dem Mann zu sein, der mir das Herz gebrochen hatte und ich war mir vollkommen sicher, dass ‚ganz weit weg‘ auf jeden Fall hier sein musste.
Rasch drehte ich mich um und prallte unvermittelt gegen einen Mann, der schräg hinter mir an dem Auto stand, das neben mir parkte.
Ich hatte weder seine Schritte gehört noch eine Bewegung bemerkt.
„Hey, was..“, ich biss mir auf die Lippe und machte mir klar, dass eine Schimpftirade an meinem neuen Arbeitsplatz nicht der beste erste Eindruck war
„Entschuldigung“, murmelte ich also leise und sah zu meinem Gegenüber hoch.
Der Mann war groß, muskulös und hatte ein scharf geschnittenes, hellhäutiges Gesicht. Er trug einen Anzug, der maßgeschneidert sein musste und sein schwarzes Haar war zu einem vollkommen akkuraten Zopf in seinem Nacken gebunden. Seine Augen hingegen waren blass blau und musterten erst mich, dann mein Auto und schließlich wieder mich. Unwillkürlich fröstelte ich.
„Sie können hier nicht parken – diese Parkplätze sind nur für Klinik-Personal.“ Seine Stimme klang tief und fest, so dass ich automatisch einen halben Schritt zurück weichen wollte und mich mit dem Rücken an meiner Autotür wiederfand.
Er schüttelte den Kopf, schien zu entscheiden, dass ihm seine Zeit zu kostbar für dieses Problem war und wandte sich wortlos ab. Dann öffnete er die Fahrertür seiner dunklen Limousine und stieg ein, nur um einen Augenblick später fast lautlos vom Parkplatz zu fahren.
„Vollidiot“, motzte ich leise vor mich hin.
„Übrigens bin ich Klinik-Personal .. noch dazu schlecht bezahlt!“
Mir war vollkommen klar, dass er mich nicht hören konnte, aber ich war wütend und müde. Diese ganze Situation, das Klinikum, die Stadt und überhaupt alles erschienen mir fremd und falsch. Ich wollte wieder dahin, wo ich mich auskannte, wo ich wusste, was ich wie und wo machen musste und wo ich die besten Kaffee-Automaten kannte.
Ein letzter Seufzer entglitt mir, dann stieß ich mich von meinem Auto weg, warf mir die alte, abgewetzte Ledertasche über die Schulter und ging auf das altertümlich anmutende Gebäude zu.
„Ich hasse dich jetzt schon, nur dass du es weißt.“
Das Gebäude nahm meine Beleidigung mit stoischer Ruhe zur Kenntnis – dann stand ich auch schon vor der riesigen Eingangstür, eine alte, hölzerne Flügeltür mit schweren Griffen. Sie war verschlossen. Ich suchte und fand einen Klingelknopf, zögerte etwas, schluckte kurz und drückte dann darauf. Nichts geschah.
Ich wartete eine Weile, dann klingelte ich noch einmal.
Diesmal hörte ich ein Schaben und Rascheln. Kurz darauf öffnete sich eine kleinere Tür, die in die große Tür eingelassen war und ein kleiner, hagerer Mann in weißem Kasak und weißer Hose sah mich aus wässrig-grünen Augen fragend an.
„Ja?“
Er machte keine Anstalten aus dem Weg zu gehen.
„Ehm .. mein Name ist Caecilia Norish. Ich bin angemeldet für das PJ-Tertial hier und..“
Er unterbrach mich mit einer hastigen Geste und bedeutete mir, leiser zu sprechen.
Ich starrte ihn an und fuhr, beinahe flüsternd, fort:
„Ich bin gerade erst angekommen. Wo muss ich mich melden?“
Ich bekam wieder keine Antwort.
Der Mann packte mich am Arm und zog mich mit sich, bedeutete mir gleichzeitig mit der freien Hand, still zu sein.
Hinter der großen Flügeltür lag eine Eingangshalle mit dickem Teppich und großen, alten Gemälden, die verschiedene Menschen und Landschaften zeigten. Mir blieb nicht die Zeit, sie in Ruhe zu betrachten, denn der Mann zog mich durch eine weitere Tür zu seiner rechten und dahinter einen schmalen Gang entlang.
Mehrere weitere Türen gingen rechts und links von dem Gang ab und durch eine von ihnen zog er mich, ehe er mich endlich los lies. Wir standen in einem kleinen Büro mit einem überdimensionierten Schreibtisch, Aktenschränken, Bücherregalen und jeder Menge Papierstapel.
„‘Tschuldigung, aber es is noch früh und wenn wir die Patienten jetzt schon wecken, wird der Tag anstrengend.“
Ich runzelte die Stirn. Mittlerweile war es vermutlich sieben Uhr. In jedem Krankenhaus, das ich kannte, war um diese Zeit bereits voller Betrieb. Ich zuckte die Schultern und kramte die Mappe aus meiner Tasche.
„Ich bin Ted, arbeite hier schon ne Weile. Hast du die Formulare dabei?“
Ich nickte und drückte ihm Personalbogen, Schweigepflichtserklärung und alles andere, was ich hatte ausfüllen und unterschreiben müssen in die Hand.
Er sah die Unterlagen einmal durch und nickte dann.
„Ich zeige dir gleich dein Zimmer, da kannst du dein Zeug abstellen und dann solltest du erstmal rüber zum Spital fahren und dich nützlich machen. Später zeigen wir dir hier alles.“
Mein Stirnrunzeln war nicht zu übersehen.
„Aber ich..“
„Ich weiß, du hast dich für die Psychiatrie angemeldet, aber wir haben eine Kooperation mit dem Spital. Das bedeutet, dass du morgens dort Blut abnimmst, Zugänge legst und die Verbände erneuerst. Der Professor leitet nicht nur diese Klinik hier, sondern auch die chirurgische Abteilung dort. Du wirst hier ne Menge sehen, Kleine, aber dafür wird erwartet, dass du drüben aushilfst und zwar an jedem Morgen und an drei Nächten in der Woche.“
Ich starrte ihn an, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen. Das konnte nicht sein Ernst sein. Ich war hergekommen, um der Chirurgie den Rücken zu kehren und zwar mit dem Fachgebiet, das sich am weitesten davon entfernte und jetzt sollte ich auf einer chirurgischen Station aushelfen? Und was war das für ein Professor, der eine psychiatrische UND eine chirurgische Klinik leitete? Ging das überhaupt?
„Ich habe aber..“
Er unterbrach mich mit einer knappen Geste.
„Nimm es einfach hin. Glaub mir, is besser so. Du willst nicht mit dem Professor diskutieren, das ist nicht gut.“
Er sah auf die Uhr und zog die Brauen zusammen.
„Is schon nach sieben – dein Zimmer muss warten. Lass dein Zeug hier und dann rüber mit dir. Wir sehen uns hier in“ er sah wieder auf die Uhr „naja, mal sehen wie schnell du bist – schätze so in drei Stunden. Guten Start und bis nachher. Ich bring dich raus.“
Mit diesen Worten schob er mich durch die Tür und den Gang zurück zum Haupteingang. Jeder versuch, etwas sagen oder fragen zu wollen, wurde von ihm mit raschen Gesten unterbrochen. Vor der Tür zwinkerte er mir noch einmal zu und nickte dann.
„Keine Panik, wird schon . Gewöhnst dich schnell an alles, wirst sehen. Bis nachher.“
Dann fiel die Tür ins Schloss.
Meine Unterlagen waren in dem Büro geblieben, aber meine Tasche hatte ich bei mir behalten. Eine Weile lang starrte ich auf die geschlossene Tür und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Für einen kurzen Moment hätte ich alles für eine Zigarette gegeben, allein schon, um mehr zu tun, als sinnlos eine alte Tür anzustarren, aber ich hatte keine dabei und darüber war ich froh. Nicht in alte Muster verfallen – ich konnte Jenn förmlich hören, wie sie mir das predigte. Ich nahm meinen Autoschlüssel und machte mich auf den Weg zurück zum gelben Betonklotz.
Dort angekommen betrat ich das Gebäude, das so völlig anders war als das kleine Schloss im Wald, durch eine schmutzige Glastür.
Drinnen war es ruhig – ungewohnt für mich, wo um diese Uhrzeit an der Uni-Klinik, an der ich bisher gelernt hatte, bereits hektisches Treiben herrschte.
Eine kleine Theke war beleuchtet und eine übermüdet wirkende, ältere Dame saß dahinter und starrte teilnahmslos in ein buntes Magazin.
„Entschuldigung?“
Es waren nur wenige Schritte notwendig gewesen, um zu ihr zu gelangen.
„Hallo?“, holte ich erneut aus, nachdem sie auf meine erste Ansprache nicht reagiert hatte.
„Deutsch?“ Sie runzelte die Stirn, ohne von ihrem Magazin aufzusehen.
„Ja ehm.. Caecilia Norish, ich komme für mein PJ-Tertial zur Judas-Thaddäus-Stiftung. Ich soll hier aushelfen und..“
„Zweiter Stock, rechter Flur, dritte Tür.“
Sie hatte immer noch nicht aufgesehen und so langsam kühlte meine Laune auf arktische Temperaturen herunter. Waren hier eigentlich alle Menschen so unfreundlich?
„Vielen herzlichen Dank für die freundliche Auskunft“, knallte ich ihr mit wütend auf den Tresen und sah mich nach dem Aufzug um.
Oben angekommen blickte ich in lange Flure rechts und links, die jeweils durch eine Flügeltür aus Glas betreten werden konnten. Auf der Tür zum rechten Flur blätterte die Farbe von einer schmutzig grauen ‚4‘ ab und mit einem tiefen Seufzen trat ich in den hell erleuchteten Gang.
Da die Türen zu beiden Seiten des Flures abgingen, stockte ich kurz, als ich an der jeweils dritten Tür ankam, doch rechts stand die Tür weit offen und ich sah das beinahe vertraute Chaos von Akten, Kurven, Kaffeetassen, Computermonitoren, welche allerdings eher prähistorisch wirkten und einem überdimensionalen Drucker.
Auf einer Seite der zu einem großen Rechteck zusammengeschobenen Schreibtische saß eine junge Frau mit kurzen, struppigen, braunen Haaren und einer Stubsnase.
„Entschuldigung..“, murmelte ich und machte mich auf die nächste Unfreundlichkeit gefasst.
Die Frau sah auf, musterte mich kurz mit leuchtend grünen Augen, die in dunklen Höhlen lagen und runzelte die Stirn.
„Bitte sag mir, dass du Caecilia bist.“
„Ehm… ja.. aber Lia reicht. Und du?“
Sie klatschte mit beiden Handflächen auf den Tisch und stieß einen kleinen Freudenschrei aus.
„Ha! Endlich, darauf habe ich so sehr gewartet. Willkommen in der Hölle. Heute ist dein erster und mein letzter Tag und ich kann es kaum erwarten, das Zepter an dich weiterzugeben.“
Ich starrte sie ungläubig an und wartete auf irgendetwas, das den Inhalt ihrer Worte zu einem Scherz degradierte. Als nichts dergleichen kam, hakte ich nach.
„Das.. klingt ja, als hättest du eine tolle Zeit hier gehabt?“
„Oh – ja ganz außerordentlich“, raunte sie. „Du wirst, so wie ich und die Mädels vor mir, der persönliche Fußabtreter von Dr. Dracula, viel Spaß damit.“
Ich merkte, dass ich sie anglotzte, aber ich versuchte, einen Sinn in ihre Worte zu bringen und es wollte mir nicht gelingen.
„Bitte?“ mehr brachte ich nicht zustande.
Sie stöhnte und fuhr sich mit der Hand durch die Haarexplosion auf ihrem Kopf.
„Du – und die anderen Studenten, die dumm genug waren, hierher zu kommen – ihr seid die persönlichen Trottel und zwar vom Chef. Und nein, er heißt nicht Dracula aber er sieht so aus und er hat übrigens keinen Humor. Er ist ein Arsch, um genau zu sein. Mach dich darauf gefasst, dass du in vielen Nachtschichten arbeiten wirst, denn er ist nur nachts hier in der Klinik, tagsüber drüben in der Stiftung oder bei einem seiner Forschungsprojekte. Schlaf braucht er scheinbar keinen, aber das ist ja angeblich bei Chefärzten genetisch so umprogrammiert. Besser du verabschiedest dich auch ganz schnell vom Schlaf, denn es ist genug Arbeit für drei von uns.“
Ich glotzte immer noch.
„Jetzt guck nicht so. Ich habe es auch überlebt. Der Vorteil ist, du lernst ne Menge, der Nachteil ist, dass du sonst nichts siehst, was außerhalb der Klinik existiert, oder schläfst.. oder irgendetwas tust, was gut für dich ist. Ich hab 8 Kilo verloren in den vier Monaten hier.“
Sie lachte und griff hinter sich um einen zerknitterten Kittel zu angeln.
„Ich werde dir alles zeigen und dann wird mich dieses Haus hier nie wieder sehen.“
Sie stand auf und wollte an mir vorbei durch die Tür, aber ganz langsam erwachten meine Lebensgeister wieder aus dem Zustand völliger Schockstarre.
„Warte mal. Was ist mit Dr.. wie heißt er?“
Sie seufzte und sah mich an. Sie war ca. eineinhalb Köpfe kleiner als ich und sah tatsächlich so aus, als hätte sie seit langem keinen Schlaf mehr gehabt.
„Der Chefarzt heißt Professor Dr. Cretulescu. Er mag es nicht, wenn man viel redet oder Fragen stellt. Am besten redest du einfach gar nicht. Wenn du ihm auf die Nerven gehst, zieht er dich mit Fragen derartig aus, dass du das Gefühl hast, niemals studiert zu haben – er weiß einfach alles, also mach ihn am besten gar nicht erst wütend.“
Sie wollte sich an mir vorbei drängen, doch ich stemmte den Arm gegen den Türrahmen und versperrte ihr den Weg.
„Kann man ihn nicht irgendwie milde stimmen? Kaffee? Schokolade? Jeder Chef hat doch irgendetwas, worauf er freundlich reagiert.“
In Gedanken schweifte ich kurz zurück nach Deutschland und zu dem Chef der Chirurgie, der dort einfach von jedem geliebt wurde und der jeden Morgen einen doppelten Espresso zu sich zu nehmen pflegte – was auch jeder, der für ihn arbeitete, wusste, so dass er sich niemals selbst darum kümmern musste.
„Keine Chance. Er isst oder trinkt nie in der Klinik. Er sagt, das Essen und der Kaffee hier seien unterirdisch – womit er übrigens recht hat, also versuch es gar nicht erst. Und drüben – keine
Ahnung. Ich habe ein chirurgisches Tertial gemacht, also war ich so wenig wie möglich dort. Die Stiftung ist mir unheimlich und ich wollte mit den Irren da nichts zu tun haben“
„Aber..“
Sie unterbrach mich und schob meinen Arm weg.
„Caecilia – ich bin wirklich, wirklich müde. Du kannst jetzt mitkommen und dir von mir alles zeigen lassen oder nicht. Dann fahre ich eben nach hause und du musst selbst zusehen, wie du klar
kommst. Nächste Woche kommt noch ein anderer Student, der nur für die Chirurgie zuständig sein wird. Ihr teilt euch die Nachtschichten - sei dankbar, das hatte ich nicht. Und jetzt komm“
Sie wandte sich, ohne sich umzusehen der gläsernen Flügeltür zu und ich folgte ihr mit einem nur mäßig unterdrückten Kloß im Hals.